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Konstruktion und Poesie

Zwei Ausstellungen zur tschechischen Fotografie  ■ Von Christof Boy

Irgendwie paßt die armselige Ausstattung des Städtischen Museums Mülheim zu den Fotos. Auch Jan Saudek hat seine Modelle, die fülligen und dürren nackten Frauen voller morbider Erotik, vor abgeschabte, notdürftig verputzte Wände gesetzt. Seine aggressiven handkolorierten Aktaufnahmen passen hierhin; die sexuellen Sehnsüchte, die grelle Inszenierung des Spiels der Geschlechter verlangen nicht nach einer glatten, sondern nach genau dieser kaputten Umgebung. Auf dem Tisch in der Kaffeestube hat die Museumswärterin eine Illustrierte liegenlassen. Die aufgeschlagene Klatschspalte zeigt eine dicke Frau, die ihre leidvolle Kindheit — „Wie aus meinen Tränen ein Bestseller wurde“ — ausbreitet. Jan Saudek hätte eine bessere Aufgabe für sie gehabt: als lustvolle Putte oder als aufreizende Diva mit fleischlichen Wonnen. Seine Arbeiten sind nur als Ergänzung gedacht zu einer Ausstellung über unbekannte tschechische Fotografen der Gegenwart. Ähnlich wie Joseph Koudelka, der sich durch seine Fotos vom Prager Frühling 1968 für die französische Fotoagentur „Magnum“ einen Namen gemacht hat, ist im künstlerischen Bereich Jan Saudek bisher der einzige tschechische Fotograf geblieben, dessen Bilder auch im Ausland bekanntgeworden sind. Dabei zeigt die Mülheimer Ausstellung Die neue Kontinuität 1970 — 1990, wie einfallsreich und humorvoll auch andere tschechische Fotografen sind. Jedoch etwa eine Art von gesellschaftskritischer Fotografie zu erwarten, heißt die Auswirkungen der verheerenden Ereignisse von 1968 falsch zu interpretieren. Die Bilder bleiben in deutlicher Distanz zur politischen Realität; fast sieht es so aus, als habe sich das Gros der tschechischen fotografischen Avantgarde — wie auch viele Künstler in anderen sozialistischen Ländern — in die Innerlichkeit geflüchtet.

Immerhin haben sich die in Mülheim vorgestellten Fotografen den Humor bewahrt und auf der Suche nach neuen Wegen wieder Anschluß an das Selbstbewußtsein der tschechischen Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre gefunden. Erst 1990 sprang auch der Funke der sanften Revolution in der CSFR auf die künstlerisch ambitionierten Fotografen über. Das einzige politisch motivierte Bild der Ausstellung zeigt ausgebrannte Busse nach dem Einrücken der sowjetischen Armee in Prag. Mit bräunlichen Farb- und Lackschichten hat Josef Snobl die Fotos vom Ende des Prager Frühlings so lange übertüncht, bis sie hinter der Firnis fast nicht mehr zu erkennen sind — sechs Fotos, zusammengestellt in zwei Triptycha, letzte archäologische Spuren einer geschichtlich überholten Zeit.

Wie sehr sich die tschechischen Fotografen der Gegenwart mit der frühen tschechischen Fotografie verbunden fühlen, zeigt eine andere Ausstellung in Krefeld, die parallel zu sehen ist: Konstruktion und Poesie zeigt das Prag der zwanziger und dreißiger Jahre — in den Fotos ist der damalige Stellenwert der tschechischen Hauptstadt als kulturelles Zentrum junger, moderner Kunst in Europa auszumachen. Deutliche Anleihen beim Konstruktivismus der sowjetischen Fotografen um Alexander Rodschenko bestimmen die Arbeiten der zwanziger Jahre. Frantisek Drtikol gelang es, sich von diesen Vorbildern zu lösen und seine Vorliebe für den Symbolismus in weiblichen Aktaufnahmen zu lösen, in denen sich die Frauenkörper mit konstruktivistischen Dekorationen aus Pappschablonen zu einer eigenartigen Stimmung verbinden. Bei anderen Fotografen dieser Zeit ist zunächst eine Abwendung von einer emotionalen Fotografie zur Neuen Sachlichkeit festzustellen, die in den dreißiger Jahren dann wieder in einer Fotografie voller Empfindsamkeit mündet. Die Ausstellung lebt von dieser Ambivalenz zwischen einer stark konstruktivistischen Phase und einer gefühlsbetonten Gestaltungstendenz, die sich während der Zeit brutaler NS-Okkupation zu einer ganz eigenen Form des Surrealismus entwickelte. Daß sich beide Pole — Konstruktion und Poesie — bei den tschechischen Fotografen gegenseitig durchdringen konnten, gibt den Bildern eine eigentümliche Spannung, die im Anschluß von den jungen Kollegen der Gegenwart nicht immer erreicht wurde.

Konstruktion und Poesie — Tschechische Fotografie 1920 — 1945 ; Kaiser-Wilhelm Museum Krefeld; bis 7.April

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