„Demokratisches Chaos statt diktatoriale Ruhe“

In Bangladesch finden die ersten demokratischen Wahlen seit 1975 statt/ Über 60 Parteien stellen Kandidaten auf/ Die Tochter des Staatsgründers und die Witwe seines Nachfolgers an der Spitze der größten Parteiallianz/ Armee im Hintergrund  ■ Von Bernard Imhasly

Erstmals seit 1975 werden am Mittwoch in Bangladesch wieder demokratische Wahlen stattfinden. Sie werden, auch dies eine Premiere, durch eine neutrale Interimsregierung durchgeführt, und keiner der Minister darf sich an den Wahlen beteiligen. Viele der 60 Millionen WählerInnen haben denn auch das Gefühl, sich das erste Mal in der Geschichte ihres Landes an einer freien Wahl beteiligen zu können. Dies mag dazu beigetragen haben, daß sich die über 2.700 KandidatInnen bisher einen harten und erstaunlich fairen Wahlkampf um die 298 Sitze geliefert haben. Was den Enthusiasmus noch verstärkt, ist, daß er durch den Sturz von Präsident Ershad provoziert wurde. Der mußte sich am 5. Dezember vergangenen Jahres den landesweiten Protesten gegen sein neunjähriges Regime beugen und übergab das Amt einem von der Verfassung nicht vorgesehenen Vizepräsidenten. Ob das Land mit diesem neuen demokratischen Anlauf endlich eine Stabilisierung seines politischen Systems erreichen kann, ist allerdings fraglich. Bangladesch bitterarm. Die große Mehrheit der über 106 Millionen Bangalen gehört mit einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 170 Dollars pro Jahr (1988) noch immer zu den ärmsten Menschen der Welt, und die politische Klasse ist nach zwanzig Jahren voller mißglückter politischer Experimente verunsichert und zersplittert. Aber nach fünfzehn Jahren Einmannherrschaft — ausgeübt durch die Ex-Generäle Zia ur-Rahman und Ershad — ist vielen „ein demokratisches Chaos lieber als diktatoriale Ruhe“, um so mehr als es eine demokratisch verbrämte Diktatur gewesen war, in der, wie sich ein Bangale ausdrückte, „das Land lernen mußte, mit Lügen zu leben“. In den letzten zwei Monaten hat sich dieses erzwungene Schweigen nun Luft gemacht — in Demonstrationen und Resolutionen gegen Ershad, in Straßentheatern und zahlreichen Enthüllungsberichten, in denen der ehemalige Präsident, seine Frau Raushan und lange Listen von Höflingen und Ministern der Raffgier, des Mordes, des Kindsraubs, des Ehebruchs und weiterer derartiger Verbrechen angeklagt wurden.

Trotz des Drucks der Parteien und der Straße konnte es der interimistische Vizepräsident Shahabuddin Ahmed bisher vermeiden, die Exzesse des alten Regimes mit neuen Exzessen zu bestrafen. Die Jatiya-Partei Ershads, die nach den massiv gefälschten Wahlen von 1988 die Parlamentsmehrheit innehatte, wird in allen Wahlkreisen eigene Kandidaten stellen. Auch Ershad, gegen den ein Prozeß wegen illegalen Waffenbesitzes auf die Zeit nach den Wahlen verschoben wurde, kandidiert.

Die beiden größten Parteien, die Awami Liga (AL) und die Bangladesch Nationalist Party (BNP), unterscheiden sich ideologisch nur wenig und machen sich das politische Mittelfeld streitig. Der Mangel an politsichen Alternativen hatte ihre Gegnerschaft bereits in der Vergangenheit auf die Persönlichkeiten der beiden Parteiführerinnen — Hasina Wajed (AL) und Khaled Zia (BNP) — projiziert. Sie wurde um deren persönliche Feindschaft angereichert, die ihren Ursprung im Umstand hat, daß Wajed, die Tochter Mujib ur-Rahmans ist, der nach seiner Ermordung von Zia ur-Rahman abgelöst wurde — dem Ehemann Khaledas. Trotz dieser Rivalität zwischen beiden Frauen — sie waren auch in der gemeinsamen Kampagne gegen Präsident Ershad nie zusammen aufgetreten — waren sie im bisherigen Wahlkampf bemüht, sich vor allem politisch voneinander abzusetzen. Beide Parteien haben Demokratie und Nationalismus auf ihre Fahnen geschrieben. Aber die Awami Liga, für welche die Freundschaft mit Indien seit der Unabhängigkeit eine Konstante bildet, spricht von „bangalischem“ Nationalismus (der die Brücke zum indischen Westbengalen schlägt), während die BNP ihre Version als „bangladeshi“ apostophiert, und damit das weitgestreute Misstrauen gegen den in allen Windrichtungen präsenten großen indischen Bruder zum Ausdruck bringt. Auch die gemeinsame Verpflichtung zur Demokratie verbirgt Unterschiede bezüglich ihrer formalen Gestalt: Die Awami Liga will wieder zu einem parlamentarischen System zurückkehren — obwohl es Staats- und Parteigründer Mujib ur- Rahman selbst gewesen war, der Parlament und Kabinett zugunsten einer allmächtigen Präsidentschaft beschnitten hatte. Die BNP dagegen möchte das bisherige System beibehalten, obwohl die Präsidentschaft Ershads gezeigt hat, daß es ein autokratisches Regieren zuläßt, das sich vor allem für ein internationales Publikum effektvoll mit einem demokratischen Mantel umhüllen läßt. Beide großen Parteien haben ihre Allianzen mit kleinen Gruppierungen auch für die Wahlen beibehalten. Diese Verbindungen gaben sowohl der Awami Liga wie der BNP Gelegenheit, sich noch stärker voneinander abzusetzen: die Awami Liga hat sich mit einer Reihe von Linksparteien verbündet, während die Partner der BNP mit ihren islamisch inspirierten Programmen und einer antistaatlichen Wirtschaftspolitik diese ins rechte Lager rückt. Neben der Jatiya Partei von Ex-Präsident Ershad und der Jamaati-Islam, die als eigenständige Rechtspartei in 221 Wahlkreisen engagiert ist, gibt es noch etwa weitere 60 Parteien.

Die Armee, deren neutrales Abseitsstehen in der Krise vom Dezember den Sturz Ershads erst ermöglicht hatte, bleibt eine relativ stark politisierte gesellschaftliche Institution. Sie war in der Vergangenheit immer wieder eingeschritten, wenn sie die Stabilität des Landes gefährdet sah. Die ernüchternde Erfahrung von fünfzehn Jahren militärisch beaufsichtigter „Demokratie“ mit ihrer korrumpierenden Wirkung auf das Offizierskorps dürfte sie allerdings davon abhalten, bei der nächsten Krise gleich wieder ihre Tanks auffahren zu lassen. Eine konstitutionelle Krise kündigt sich übrigens gleich nach den Wahlen vom 27. Februar an: Die dann siegreiche Partei wird den Anspruch erheben können, den Premierminister und das Kabinett zu stellen. Die eigentliche Macht liegt jedoch nach wie vor beim Präsidenten, der einige Monate danach durch eine erneute Volkswahl zu bestimmen sein wird. Auch im — unwahrscheinlichen — Fall eines klaren Sieges einer der Parteien am 27. Februar könnte es sein, daß das Interimskabinett bis zum zweiten Urnengang weiterregiert, es sei denn, die Awami Liga erränge eine Zweidrittelmehrheit, mit der sie die Verfassung sogleich ändern und Präsidentschaftswahlen unnötig machen könnte. Es ist aber viel wahrscheinlicher, daß keine Partei einen derartigen Erdrutschsieg davontragen wird und daß es einige Monate später zur Wahl eines Präsidenten kommt. Damit eröffnet sich aber gleichzeitig das Risiko, daß die Partei, die bei den Parlamentswahlen gesiegt hat, bei den Präsidentenwahlen verliert — und sich plötzlich einem Präsidenten unterstellt sieht, der einer gegnerischen Formation angehört.