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Jubel kam auf, Mützen flogen

■ Ein DDR-taz-Leser der ersten Stunde erinnert sich an den 26. Februar 1990

Ich erinnere mich noch genau an diesen 26. Februar 1990. Ich werde ihn nie vergessen. In der Nacht zuvor schlief ich schlecht, im Traum unterhielt ich mich mit Willi Münzenberg über die Perspektive seines linken Zeitungsimperiums. Der stammelte freudig erregt: »Endlich, endlich ist es soweit.« Ich stellte keine weiteren Fragen, muß also gewußt haben, was er meinte. Als ich erwachte, wußte ich es nicht mehr. Bei der ersten Tasse Mocca Fix und zwei Scheiben altbackenen Rehbrücker Spezial-Toasts, die ich mit Cama und Vierfruchtmarmelade bestrich, grübelte ich über Willis Gefühlsausbruch nach. Was um alles in der Welt könnte er mit seinem »Endlich!« nur gemeint haben? Ich kam einfach nicht drauf.

Das Telefon läutete. Die Stimme klang euphorisiert: »Guten Morgen, du kennst mich nicht, ich wähl' einfach das Telefonbuch rauf und runter, muß mit Leuten reden. Endlich, endlich!« Ich wurde stutzig. »Was endlich?« Vierzig Jahre habe ich darauf warten müssen und bin doch erst einundzwanzig. Aber manchmal...« Knack. Die Verbindung war zusammengebrochen. Und ich nicht schlauer als zuvor.

Nachdenklich brühte ich mir die zweite Tasse Mocca Fix. In Gedanken ging ich alles durch, was es an Außergewöhnlichem in diesen Tagen geben konnte. War die Stasi als eigentliche Avantgarde der friedlichen Revolution erkannt worden? War der neugewählte OB von Ost-Berlin ein Afrodeutscher? Oder gar eine Frau? Kurz vor Beginn der Kopfschmerzen beschloß ich, der Sache nun endlich auf den Grund zu gehen.

Ich verließ das Haus mit Ziel Alexanderplatz. Aber ich kam nicht weit. Schon an der nächsten Straßenecke befand ich mich in einem Menschenauflauf. Da standen sie alle beieinander: die Straßenbahnfahrer, die Streifenpolizisten, die Gemüsefrauen, die netten Damen vom Konsum, die Hundebesitzer, die Autofahrer. Das Volk eben. Gestern noch hatte ich im Gemüseladen angesichts der mürrischen Miene der Verkäuferin devot mein Kilo »Gelber Köstlicher« entgegengenommen und kulant über die fauligen Stellen an den Äpfeln hinweggesehen. Jetzt erkannte ich sie kaum wieder. Die sonst so unnahbare Kiezschönheit schloß mich in ihre fleischigen Arme und hauchte mir ein »Endlich!« ins Ohr. »Endlich was?« murmelte ich, leicht erotisiert durch den ihr anhaftenden Sellerieduft. Sie sah mich mit dem Blick der Erleuchteten an: »Wir sind da — die DDR- taz.« Dann wandte sie sich wieder den Herumstehenden zu und rief: »Noch ist der Osten unser.« Jubel kam auf, Mützen flogen. Der Streifenpolizist fing die des Straßenbahnfahrers auf, schluchzte mit geballter Faust: »Together we are strong.« Mittlerweile gingen die Damen vom Konsum daran, ihr Schaufenster zu besprayen. »Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie.« Mir aber standen Tränen der Freude in den Augen, vierzig Jahre hatte ich darauf warten müssen. Wie in Trance kehrte ich in meine Wohnung zurück. Das Radio berichtete von Massenkundgebungen in allen Teilen der DDR. Ob in Rostock, Leipzig oder Suhl, überall waren die Menschen unterwegs und lasen sich gegenseitig aus den nur 60.000 Exemplaren der Startauflage vor.

Am Abend wurde ich wie immer unruhig und machte mich auf den Weg ins Café Westphal. Wollte sehen, wie die Szene das Erscheinen der ersten DDR-taz aufnahm. Schon vor dem Eingang sangen die sonst so coolen Typen: »So ein Tag, so wunderschön wie heute«. Im Laden selbst gab's natürlich nur ein Thema: wie man/frau es erfahren habe, was man/ frau so gefühlt habe, wie glücklich man/frau doch jetzt sei. Das gleich morgen der Bestellschein fürs Abo persönlich in der Redaktion abgegeben werde, mit Gratulation und Schulterklopfen. Im Hinterzimmer hielten die Vertreter der besetzten Häuser ein außerordentliches Plenum ab, um eine Grußadresse zu verabschieden. »In der Küche türmt sich das dreckige Geschirr, die Mägen knurren rundum, und wir sitzen da und lesen die taz. »Mit taz erträgt sich das dreckige Geschirr leichter«, hieß es da. Am Klavier standen wie immer die Masterminds zusammen. Kluge Menschen, denen ich gerne lausche. Der mit dem Demokratenbart gab gerade seinen Kommentar. »Die DDR- taz liegt im Trend des ausgehenden 20. Jahrhunderts. So wie die Gartenlaube im Trend des ausgehenden 19. Jahrhunderts lag.« Zustimmendes Nicken. Einer fragte vorsichtig an, ob denn die täglich 16 Seiten nicht nur auf der Basis monopolkapitalistischer oder stalinistischer Betriebsstrukturen hergestellt werden könnten. Strafende Blicke trafen ihn und ließen ihn verstummen.

An der Theke trafen sich die Schreibenden der Szene und berieten, mit welchen Beiträgen die noch junge Zeitung zu unterstützen sei. JedeR sei gefordert, sein Essay zu leisten. Zu fortgeschrittener Stunde kam dann Unruhe auf. »Er müßte doch schon längst da sein.« Und dann kam er, der Handverkäufer. Jubel im Café, Sektkorken knallten. Auf Händen trugen wir ihn zur Theke und stellten ihn dort ab. Dort skandierte er wieder und wieder die Headline der zweiten Ausgabe: »Das Obstsyndrom und der Zankapfel.« Ich mußte an meine Gemüseverkäuferin denken, an Freud und Reich.

Doch dann passierte es. Der völlig bekiffte Altautonome aus West-Berlin, der jetzt jeden Abend im Osten abhing, erhob sich und schrie: »taz lügt.« Sofort herrschte eisiges Schweigen. Und dann noch einmal dieses »taz lügt«. Das war zuviel. Einige brüllten: »Geh doch rüber, wenn's dir hier nicht paßt!« Die Frau hinter dem Tresen bekam einen Weinkrampf. Endlich fanden sich ein paar Beherzte und schleiften den Unruhestifter vor die Tür. Dort wurde er von nicht minder empörten Volkspolizisten in Empfang genommen. Nach diesem Vorfall wollte die rechte Stimmung nicht mehr aufkommen. Was wird aus dem großen Projekt, so fragten wir uns alle, wenn seine Denkart Schule macht? Wenn die Zweifler Oberwasser gewinnen? Dann wären die Tage der DDR-taz gezählt. Zum Glück aber hatten wir ja gesehen, wie tief die Zeitung schon im Volk verwurzelt war. Ich gehe von Tisch zu Tisch und spreche den Leuten Mut zu: »Die taz (West) ist klug genug, um die Sorgen und Launen der östlichen Gefährtin nicht mit dem gesamtdeutschen Besen zu übergehen. Noch ist der Osten unser!« Dankbare Augen sahen mich an. Uwe Baumgartner

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