Aus Mars wird Zorn

■ Ria Endres bearbeitet fürs Zürcher Schauspielhaus Fritz Zorns Krankheitsgeschichte

Auf zwei Stühlen stehen ein Mann und eine Frau. Sie sprechen zu dem Jungen herunter, der vor ihnen sitzt. Die Winterreise und Goethe sind „herrlich“, Jazz und der Kriminaltango schlecht. Besitz macht „respektabel“, Armut „einfach“, das Geburtstagsgeschenk war „nicht billig“, Berufsverbote für Altfaschisten und Sozialisten „lassen sich nicht vergleichen“. Die Eltern ähneln Handkes Einsager, ihr Sohn seinem Kaspar.

Die Welt, in die alle drei eingeschlossen sind, ist streng geordnet, jede Natürlichkeit bleibt ausgeschlossen. Über dem edlen Mahagoniparkett umspannen Drahtseile einen Würfel. Bewegungen sind abgezirkelt, Gesten erstarren zu Posen. Ihre blassen Gesichter und weißen Kostüme machen die Eltern zu Lemuren, der Sohn kommt aus seinem blauen Konfirmandenanzug nicht heraus.

Er lernt, daß sein Elternhaus „vornehm“ und alle anderen „lächerlich“ sind; er verlernt seine Neugierde und Spontaneität; Mädchen, Religion, Politik, alles, was für Heranwachsende spannend wird, ist „schwierig“ und stört das zentrale Wort „Ruhe“. Ein Vokabular der Verdrängung hält die Wirklichkeit der Wünsche und Widersprüche draußen; die Gefühle, für die es keine Wörter gibt, verkümmern. So leckt sich ein Petticoat-Mädchen vergeblich den Puls, als der verkrampfte Junge ihr erklärt, Frauen würden durch die Berührung schweißnasser Handgelenke schwanger. Zwischen den zeitlupenhaft walzenden Eltern und einem Rock 'n' Roll tanzenden Paar irrt er hilflos umher, in der Cafeteria der Universität sitzt er wie in Glashaus neben einem Tassenturm, während die Kommilitonen ihrer Arbeit oder dem Vergnügen nachgehen. Im Umgang mit ihnen gelingen dem Studenten in Weste und Krawatte nur Herablassung und ein sorgloses Lächeln.

Am Ende richtet sich seine Unfähigkeit zur Wut gegen ihn selbst, zu einer schweren Depression kommt Krebs hinzu, der Todeskampf beginnt. Der Zusammenhang zwischen seelischer und physischer Erkrankung ist zentrales Thema des „Falles“ Zorn.

Es ließ das Buch Mars, worin der Autor seine Krankheitsgeschichte unter dem Pseudonym Fritz Zorn geschildert hatte, in Zürich zum Skandal und in halb Europa zu einem der zentralen Verständigungstexte der späten siebziger Jahre werden. Ria Endres hat den Text zu einem zweiaktigen Bühnenstück bearbeitet, am Zürcher Schauspielhaus inszenierte Barbara Liebster vierzehn Jahre nach seinem Erscheinen die Uraufführung. Der zentrale Kunstgriff der Autorin besteht in der Aufspaltung Fritz Zorns in zwei Figuren.

Während der angepaßte Sohn rigider Eltern zentrale Situationen der Lebenserinnerung erleidet, wälzt sich im weißen Ledersessel sein rebellischer Teil und kommentiert das Geschehen. Ria Endres hat damit nicht nur einer grundlegenden Einsicht in die autobiographische Struktur Rechnung getragen und die erinnernde Person von der erlebenden unterschieden. Sie hat vor allem der Regie ein Mittel an die Hand gegeben, die Brüche des Textes auf der Bühne zu zeigen.

Mars liest sich heute wie ein Therapiebericht, der auch das Bedürfnis des Kranken nach Selbstinszenierung, sein Zelebrieren von Morbidität, das Zurschaustellen von Sprachgewandtheit, die Lust an der totalen Anklage festhält, mit denen der Patient Zorn vor seinen Wunden floh, statt sie einzukreisen. Unter dieser neuen Form des alten Selbstbetrugs droht der schmerzende Körper des verkrampften Kindes wieder zu verschwinden. Der große Kampf gegen Gott und die Gesellschaft wird zur neuen Variante der Selbstentfremdung, die ihn hindert, „ich“ zu sagen.

Der freakige Zorn ist im Pfauen- Keller am Ende denn auch mehr mit seinen Eltern verwandt als sein angepaßter Widerpart. Der transparente Anzug, den er auf nackter Haut trägt, ist so weiß wie ihre Kostüme, sein langsamer steifer Gang erinnert an ihre Bewegungsarmut. In den Haßtiraden gegen sie und die bürgerliche Gesellschaft bleibt er ihnen verbunden. Der alte Fritz Angst wird da nur ein weiteres Mal verdrängt.

Barbara Liebster und die Schauspieler finden für die Verhältnisse schöne Bilder. Als der private Zorn um sein Leben fürchtet und ganz bei seinem Unglück ist, lockern sich die Seile, die den Raum markieren; wenn sein spätes Alter ego zum Fluch auf Gott und die Welt ansetzt, spannen sie sich erneut. Schwäche und love me tender, das eine Frau zu singen beginnt, haben keinen Platz. Die erstarrte Welt der Drahtseile hält beide Zorns umfangen, auch der rebellische Part bleibt in ihre Choreographie eingebunden. Die Zürcher Außenwelt der Häuserspekulation, der Polizeieinsätze gegen jugendliche Demonstranten, der Drogenszene findet nur im Fernsehen am Rande der Bühne statt.

Ria Endres' Inszenierung bringt mit den Mitteln des Theaters eine kongeniale Analyse des Krankenberichtes zustande. Sie beeindruckt durch die Konzentration auf das konkrete Textmaterial, durch das Gespür für seine Brüche und durch die Konsequenz, mit der die pathetische Pose des Mars in einen Bewegungsablauf stilisierter Gesten und Zeichen umgesetzt wird. Zorn, wie die Autorin das wollte, wurde nicht geweckt. Dazu war der Stoff zu bekannt und das Seziermesser des ersten Autors, ungeachtet seines Todes, zu stumpf. Gerhard Mack

Ria Endres: Zorn . Regie: Barbara Liebster. Bühne: Heinz Kriesi. Schauspielhaus Zürich.

Nächste Aufführung: 28. Februar.