Der Besucherrekord jenseits der ITB

■ Der »Friedens-Ratschlag« — Gespräche zum Golfkrieg im Foyer der Gedächtniskirche

Hilde Schramm (AL), ehemalige stellvertretende Präsidentin des Abgeordnetenhauses, besitzt kein heimisches Telefaxgerät und damit auch keinen direkten Zugriff auf die Medien. Schon deshalb startet sie — im Gegensatz zu ihrer Amtsnachfolgerin Laurien — keine nächtlichen Publicity-Ermunterungs-Attacken in Form rüder Einschüchterung öffentlich-rechtlicher Rundfunkintendanten. Statt dessen bringt sie — grammatikalisch einwandfrei und inhaltlich klar — ihr Anliegen direkt an die Frau/den Mann. Nämlich: »im Rahmen des Friedens-Ratschlages kontinuierlich öffentlich nachzudenken, wichtige Aspekte, Fragen, Themenkomplexe zum Golfkrieg zu erörtern, Meinungen zu klären, Argumentationshilfen zugeben, eine handlungsbezogene politische Analyse zu treffen und sich gemeinsam um Lösungen zu bemühen.«

Den »Friedens-Ratschlag« gibt es mit täglich wechselnden Themen seit dem 29. Januar; zunächst einige Tage vor der Gedächtniskirche, dann wegen Kälteeinbruchs im Foyer der Gedächtniskirche oder im Zelt auf dem Breitscheidplatz. Da »die Verhältnisse« so sind, wie sie sind, bleibt der »Friedens-Ratschlag« in puncto »BesucherInnenzahl« weit abgeschlagen hinter der »Grünen Woche« zurück und kann es diesbezüglich auch mit dem Arbeitsamt nicht aufnehmen. Aber immerhin, sechzig bis hundert »multikulturelle« TeilnehmerInnen kommen, eine Reihe von ihnen regelmäßig. Ihre Wünsche — »Ich bin politisch in keiner Gruppe, möchte aber außer dagegen zu sein etwas tun gegen den Krieg«; Interessen: »Ich will Information. Die zum größten Teil kriegsimmanent berichtenden Medien geben doch überwiegend sogenannte >aktuelle<, zensierte Interna der Militärs weiter. In LTI- Deutsch. Kaum ist Honecker weg, erfüllt Bush >die Pläne<. Das deprimiert mich bloß«; Motivationen: »Jetzt, wo die Demos abflauen, will ich wenigstens inhaltlich am Ball bleiben. Hier treffe ich auf Leute, die sich als KriegsgegnerInnen verstehen und auseinandersetzen«; und Haltungen: »Ich bin verunsichert. Weil ich viele kenn', die den Golfkrieg nicht wünschen, ihn aber für notwendig halten« — nimmt der »Friedens-Ratschlag« organisatorisch, inhaltlich und formal auf. Die jeweiligen themen werden von TeilnehmerInnen und Koordinatorinnen (neben Hilde Schramm Wiebke Bruken und Helga Zimmermann) gemeinsam bestimmt. Die geladenen FachreferentInnen beiten ihre Kenntnisse in sachkundig strukturierten Gesprächen mit allen anderen Anwesenden an. Jede/r Interessierte kann weitere ReferentInnen vorschlagen, oder, mit entsprechendem Wissen, selbst ein Thema übernehmen. So entsteht eine offene, macht- und angstfreie Atmospähre des gegenseitigen Austauschs à la Runder Tisch vor dem Einfall von Kohl & Co., in der sich alle (fast) alles zu sagen wagen: »Ich bin in Bezug auf (US-)amerikanische Nahost-Politik, Golfkrieg, aber auch andere Schweinereien in der Dritten Welt, bewußt anti(US-)amerikanisch, und ich schäme mich nicht!« Auch ein »Tabu«, wie es die von Deutschen ausgesprochene Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist, wird, wenn auch zögernd, gebrochen. Und gefragt wird auch. »Was ist genau Appeasement?« oder »Ist Ströbele naiv?« oder »Wer bezahlt Enzensberger?«, Wolf Biermanns Ausführungen in der 'Zeit‘ und dem Essay-Versuch von Hans Magnus Enzensberger im 'Spiegel‘ werden dann auch ausführlich gegeißelt.

Zum Thema »Zur Frage der Rechtfertigung des Golfkriegs mit historischen Parallelen zum Zweiten Weltkrieg« kann der »Friedens-Ratschlag« einen »Besucherrekord« verzeichnen. Gerade, weil Biermann und Enzensberger bisher von der sprechenden Mehrheit der Anwesenden — wie vom linksliberalen Spektrum überhaupt — als »kompetente Köpfe« und »hervorragende Künstler« geachtet wurden, lösen ihre Botschaften »emotionale Irritationen« aus, werden aber gleichzeitig als »Wiederauflage des Historikerstreits« und »Camouflage des skandalösen Geißler-Statements« begriffen. (O-Ton Geißler: »Der Pazifismus der dreißiger Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der dreißiger Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.«) Ossip Flechtheim, als »jüdischer Zeitgenosse beider Weltkriege, Historiker und Politologe« von Hilde Schramm vorgestellt, fügt hinzu: »Ich bin auch Pazifist und Sozialist«, bevor er, wie Faschismus-Forscher Frank Dingel, die Gleichsetzung von Saddam mit Hitler, Irak mit Nazideutschland, IrakerInnen mit Nazideutschen als »oberflächlich« verwirft: »Beide sind Männer und Schnurrbartträger mit einem gewissen Charisma. Beide tätscheln, wie Scharen anderer Politiker auch, vorzugsweise vor gezückter Kamera, um Volksnähe zu beweisen, gern Kinderköpfe.« Flechtheim und Gingel verweisen auf die unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen, historischen Bedingungen: Der Irak sei ein Land der Dritten Welt ohne nennenswerte eigene Kriegs- oder Waffenindustrie, Saddam sei von den USA und anderen Industriemächten zunächst als »kolonialer Ausbeuter benutzt, dann als Kunde gewonnen worden«. Hitler dagegen wurde durch den Reichstag gewählt. Auch habe »der Zweite Weltkrieg nicht als ABC-Krieg begonnen«. Woher Enzensberger sein Wissen über die Befindlichkeit der IrakerInnen nimmt, ist Flechtheim »ein Rätsel«. Spricht's, packt — geräuschlos — sein Stullenpaket aus und beginnt, manierlich und grazil, zu speisen, während Dingel »die Gefährlichkeit« der Enzensbergerschen Gleichsetzung, die schon seit Beginn des Golfkriegs durch die Assoziation von »Alliierten Truppen«, »Gas(masken)«, »Juden« evoziert werde, betont: »Saddam = Hitler eignet sich als Muster künftiger Konflikte zwischen Erster und Dritter Welt.« Die werden sich nach Ansicht eines großen Teils der »Friedens- Ratschlag«-TeilnehmerInnen durch die entstellten Formen von Politik und die von Präsident Bush avisierte »neue Weltordnung« unter Kuratel der USA noch verschärfen. Der »Friedensratschlag« soll deshalb auch nach dem Ende des akuten Krieges weitergeführt werden. Roswitha Kämper