Das schlechte Gewissen der ÖTV

■ Der Solidarplan des Berliner Sozialwissenschaftlers Grottian

Der Berliner Sozialwissenschaftler Peter Grottian ist schon öfters als schlechtes Gewissen der ÖTV aufgetreten. Seine Vorschläge zur Tarifpolitik im öffentlichen Dienst zielen dabei immer darauf, eine Brücke der materiellen Solidarität zwischen verschiedenen Beschäftigten bzw. Personengruppen zu bauen, zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen, zwischen besser und schlechter Verdienenden. Bei der ÖTV hat er damit bisher kein Gehör gefunden. Sie verbat sich die nicht erbetene Einmischung in ihre Politik.

Jetzt hat Grottian wieder einen Vorschlag vorgelegt und von einigen anderen Professoren mit unterzeichnen lassen. Diesmal geht es ihm um die Solidarität zwischen Ost und West in der laufenden Tarifauseinandersetzung des öffentlichen Dienstes. Ansatzpunkt seiner Kritik ist die pauschale 10-Prozent-Forderung der Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst West, die keinerlei Umverteilungskomponente in Richtung Ost enthält und die lohnpolitische Verfügungsmasse der öffentlichen Hand voll in Beschlag zu nehmen droht. Zwar fordert die ÖTV gleichzeitig die Erhöhung der Ostgehälter auf zwei Drittel des Westniveaus, stellt sich aber nicht dem Dilemma, daß eine derartige Einkommenserhöhung angesichts der Finanzmisere in den neuen Bundesländern dem dringend notwendigen Neuaufbau der öffentlichen Verwaltung entgegensteht. Grottian schlägt vor, in diesem Jahr einen Teil der im Westen durchgesetzten Lohnerhöhung nicht auszuzahlen, sondern über einen Fonds für zusätzliche Einkommensteigerungen und Einstellungen in den Osten fließen zu lassen.

Es ist wenig wahrscheinlich, daß die ÖTV diesmal auf die Vorschläge des Berliner Professors anders reagiert als bisher. Es gibt dafür nicht nur schlechte, sondern auch gute Gründe. Die schlechten sind: Die ÖTV glaubt ganz offensichtlich, in diesem Jahr ihre West-Klientel mit realen Lohnsteigerungen bedienen zu müssen, obwohl dies der notwendigen Umverteilung von West nach Ost entgegensteht. Das Schlagwort dafür heißt: „keine Sonderopfer“ für die deutsche Einheit. Die guten sind: Der Vorschlag Grottians mit 10 bis 15 Prozent Einkommensteigerung in diesem Jahr wird der Situation der unterbezahlten Ostbeschäftigten nicht gerecht. Damit können sie nicht einmal einen Teil der gestiegenen Unkosten, etwa den für August anstehenden ersten Mietsprung, auffangen. Erst ab 1992 würden sie auf 70 Prozent des Westniveaus angehoben. Die ÖTV dagegen fordert ihre 66 Prozent für möglichst bald, auf jeden Fall noch vor dem August. Damit verbaut sie zwar die Möglichkeiten für Neueinstellungen, liegt aber dennoch näher an dem, was die Menschen jetzt brauchen. Martin Kempe