Thüringen: Hundert Tage Schweigen

Seit nunmehr einhundert Tagen profiliert sich die neue Landesregierung unter Josef Duchac: Schweigen und dilettieren/ Immerhin, die erste Erfolgsmeldung der neuen Riege kommt aus dem Umweltressort: Thüringen wird keine Abfallgrube  ■ Aus Erfurt Henning Pawel

Josef Duchac, Ministerpräsident von Thüringen, regiert, so sein Sprecher, nun schon hundert Tage. Leider ist er bisher aber nicht zum Regieren gekommen, weil er anderes zu tun hat. Durchs Land zu reisen, geheimnisvoll zu lächeln und zu schweigen. Hat er vielleicht Wilhelm von Oranien, den großen Schweiger, zum Vorbild erkoren? Der Oranier jedoch schwieg zwar beharrlich, aber er handelte als Politiker und Patriot. Unser Schweiger aber schweigt nur.

Dafür reden seine Minister. „Thüringen“, so Umweltminister Hartmut Sieckmann, „wird keine Abfallgrube.“ — Erleichterung, jedenfalls bei Umweltschützern. Enttäuschung aber bei zahllosen arbeitslosen Akademikern, Technikern, Künstlern und Ärzten, die sich einen Arbeitsplatz, wenigstens als Müllmann, im künftigen Müllparadies ausgerechnet hatten. Noch vor kurzem der helle Jubel im grünen Herzen des Vaterlandes über diese Option. Die sterbenden Kalischächte Roßleben, Menteroda, Melkers, Bleicherode, Volkenroda und Sollstedt sollen wieder belebt werden. Mit Giftmüll. In rein humanitärer Absicht soll er aus allen Himmelsrichtungen herbeigekarrt werden. Rettung für mehr als 23.000 Kumpels durch Gift. Jedenfalls für ihre Arbeitsplätze, jedenfalls mindestens fünf Prozent davon. Sogar eine Giftmüllgesellschaft ist schon in Sicht. In Thüringen, Bayern und in Hessen wird gerade überlegt, wie dieselbe auszusehen hat. Nun aber — Ursache der bitteren Enttäuschung — wird erst einmal alles geprüft. Um Schaden abzuwenden, von den Regionen und ihren geprüften Bewohnern. Wenn dann geprüft ist, gewogen und für recht befunden, dann darf Thüringen vielleicht doch noch Abfallgrube werden.

Auch der Landwirtschaftsminister Volker Sklenar (CDU) hat es endlich vermocht, seine Stimme über die der beleidigten Thüringer Ochsen und Schweine, die niemand mehr haben will, zu erheben. Der Wandel, hört man, verlaufe schwierig und unbefriedigend. Aber Einsetzen nach Kräften will sich der Minister, damit die Thüringer Bauern, ebenso wie ihre Berufsgenossen in den Altbundesländern, eine monatliche Zuwendung erhalten, wenn sie mit 50 ausscheiden aus der Landwirtschaft. Wohin sie allerdings scheiden sollen, die derzeit über 40.000 auf null gesetzten Landwirte, darüber schweigt sich der Minister aus.

Vielleicht wandern sie ja ab in das Ressort seines Kollegen des Wirtschaftsministers. Jedenfalls zu dessen Problemfällen, vor den Toren der abgewickelten Betriebe, aus denen gerade wieder 5.000 Mikroelektroniker geflogen sind. Jubel allerdings und Freude im Innenressort. Minister Willibald Böck (CDU) hat sehr positive Signale gesetzt. Beamte auf Probe dürfen sie nun werden, die Thüringer Polizisten. Auch Bezahlung und Ausrüstung verbessert sich mit riesigen Schritten. 1991 schon sechzig Prozent der westlichen Polizeibezüge. 1993 dann volle 100.

Wäre ich Herr Böck, schon in diesem Jahr würden die Probebeamten 100 Prozent beziehen. Denn das Jahr wird heiß. Viel Arbeit werden sie bekommen, die Thüringer Cops und, so ist zu fürchten, viel mehr Blessuren als im Jahr der friedlichen Revolution. Der Premier aber lächelt und schweigt. Auch nach 100 Tagen. Doch seine Minister reden und grübeln: Wohin mit dem Müll, dem giftigen und dem arbeitslosen? Wohin mit den Thüringer Bauern, die, unproduktiv wie sie neuerdings nun sind, noch vor kurzem den halben Ostblock ernährten. die jetzt ebenso wie ihre gewendete und dennoch verschmähte Kreatur im Stall, den wuchtigen Schädel gesenkt, dastehen und noch abwarten.

Kultusminister Fickel (FDP) hält es ebenso wie sein Chef. Auch er ein Schweiger. Ab und an nur ist ihm ein Ruf zu entlocken. Immer gen Westen. Zur Besetzung einer gut dotierten Stelle — in den Museen, im Staatssekretariat. Ansonsten, so ist zu hören, intensivste Beschäftigung mit Wissenschaft und Thüringer Historie. Bescheidende Empfehlung des Autors: Das Augenmerk des Ministers doch auf jenes historische Ereignis zu richten, das frühbürgerliche Revolution oder großer Deutscher Bauernkrieg hieß und dessen Zentren in Thüringen waren. Zwar liegt die Schlacht von Frankenhausen 466 Jahre zurück. Aber die Erinnerung an die Beleidigten, Betrogenen und Gedemütigten, die um ihrer Hoffnung und ihrer Kinder willen es nicht mehr hinnehmen wollten, ist wach.