: Der Favorit, der keiner sein will
Ralf Sonn, Hochsprungamateur, federte in Berlin über die Jahresweltbestleistung von 2,39 Meter ■ Aus Berlin Michaela Schießl
Ohrenbetäubende Musik, ein hektisches Durcheinander und ein ganzer Stall voller narzistischer Helden: Auf den ersten Blick schien alles wie immer beim 12. Internationalen Springermeeting in Berlin. Und doch hatte Organisator Rudi Thiel vom Olympischen Sport-Club (OSC) diesmal Premieren zu feiern: Erstmals konnte er seine OSC-Neueinkäufe präsentieren: Sergej Bubka, Weltmeister im Stabhochsprung samt Bruder Wassilij und Carlo Thränhardt.
Die eindrucksvollste Neuerung jedoch war die Aufnahme eines wahrlich artistischen Wettbewerbs ins Programm: Einbeinspringen. Und weil Rudi Thiel aus Prinzip nur Weltklasse bietet, ließ er kurzerhand die besten Einbeinspringer der Welt einfliegen. „Sonst hätte ich aus finanziellen Gründen gar nicht kommen können“, sagte der Kanadier Arnie Boldt. Er ist der Superchamp unter den Einbeinspringern und hält den Weltrekord mit 2,08 m — vier Zentimeter höher als je eine Frau mit zwei Beinen hat springen können. Doch trotz dieser Leistung hält die Industrie behinderte Menschen offenbar für schlechte Werbeträger; einen Sponsor hat Arnie Boldt jedenfalls nicht gefunden. Er arbeitet als Lehrer in einem Dorf nahe Manitoba.
Seine Technik ist ein wahres Wunderwerk an Kraft, Koordination und Gleichgewicht: Voller Dynamik springt er frontal und einem Känguruh nicht unähnlich auf die Latte zu, holt kurz mit den Armen Schwung, drückt sich ab und hechtet blitzschnell wie bei einer Rolle vorwärts über die Stange. Hinter der Matte wartet der Trainer, die Krücken griffbereit, damit Boldt nicht zuviel Sprungkraft mit rumhüpfen verschwendet. Der gewaltigen Oberschenkel will geschont sein. Und trägt, solcherart betüdelt, Boldts massigen Körper über die Siegerhöhe von 1,94 m.
Nur zwei Zentimeter höher sprangen die zweibeinigen Frauen, unter ihnen Europameisterin Heike Henkel, Vorjahressiegerin mit 2,01. Diesmal verlor sie völlig ungewohnt gegen Heike Balk aus Schwerin, die wie sie 1,96 m überwandt, aber weniger Versuche benötigte. Tamara Bykowa, die 33jährige Sowjetspringerin wurde mit 1,93 Dritte und verabschiedete sich wie gewohnt mit dem Versuch eines mädchenhaften Winkens.
Das Publikum aber war zu diesem Zeitpunkt ob eines anderen Schocks paralysiert: Stabhochsprung-Gott Sergej Bubka riß drei mal die für ihn lächerliche Anfangshöhe von 5,70 m. Dabei wirkte alles so profimäßig: Wie er sich langsam wahrmachte (als sein Bruder bei 5,20 schon aufhörte), wie er ihn beriet und tröstete und schließlich ein wenig mit seinem Stab gymnastizierte. Alle zerflossen schon vor Mitleid mit Wassilij, für den es doch hart sein muß, einen soviel genialeren kleinen Bruder zu haben. Wie ein Häufein Elend beäugte er die ersten zwei Fehlversuche von Sergej, nach dem dritten hatte er schließlich familiäre Gesellschaft auf der Büßerbank. Nun mußte Thiel zu Trösten herbeieilen. Doch der Springer, der just vor zwei Wochen mit 6,08 einene neuen Hallen-Weltrekord aufgestellt hatte, raufte sich temperamentvoll die Haare, fluchte und haderte. Seinen Einstand in Berlin hatte er sich wahrlich anders vorgestellt. „Ich beantworte nur eine Frage“, schrie er in Richtung der sich nähernder Journalisten, „und zwar, warum es nicht geklappt. Es war die Schachtel: Die Einstichbox sei völlig Bubka-ungeeignet, da zu tief. Und seinen eigenen Kasten habe er dummerweise vergessen.
So riß diesmal Ralf Sonn, der Favorit, der keiner sein will, die Stimmung hoch. Dank höllischer Lautstärke schwang der hochspringende Medizinstudent seinen eigentlich viel zu muskulös geratenen Körper über die Weltjahresbestleistung von 2,39. „Macht mich bloß vor der WM nicht zum Champ“, bat der sensible Bursch. Und lachte sich anschließend eins, angesichts der namhaften Gratulanten aus dem Profilager: Patrik Sjöberg, Sorin Matei, etc. Doch als Carlo Tränhardt, der müde nur 2,24 erklomm, ihm die Hand reichte, regte sich Mitleid: „Carlo, du bist immer noch besser.“ Der aber sah das anders: Mit einem „Ach, Scheiße“ zog er sich borisartig die schwarze Schirmmütze tiefer ins Gesicht und entschwand.
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