: „Nachhaltige Störung“
■ Der FDP-Abgeordnete Burkhard Hirsch über den Umgang mit Stasi-Akten DOKUMENTATION
Allgemeine Grundsätze
Der Rechtsfrieden in der Bevölkerung der Beitrittsländer ist unverändert nachhaltig gestört.
Auf der einen Seite sind frühere Stasi-Mitarbeiter in führenden Positionen und rechnen damit, daß ihre Verstrickung nicht oder erst viel später bekannt wird. Auf der anderen Seite können bespitzelte Bürger nicht erkennen, was über sie gesammelt und aufbewahrt wurde. Sie wissen auch nicht, ob und was davon irgendwann gegen oder über sie verwendet wird. Es ist auch nicht ohne weiteres erkennbar, welche dieser Angaben zutreffend sind, und welche nicht.
Der Einigungsvertrag stellt zutreffend fest, daß das Material rechtswidrig und unter Verstoß gegen grundlegende, die Menschenwürde schützende Verfassungsgrundsätze zusammengetragen wurde. Es ist in vielen Fällen auch heute noch geeignet, schwere Schäden und Verletzungen des Persönlichkeitsrechtes der Betroffenen zu bewirken.
Eine Vernichtung des Materials wäre eine denkbare Lösung. Sie würde aber Rehabilitierungen unmöglich machen, Straftaten der Täter schützen, jede spätere Verdächtigung zulassen und die zeitgeschichtliche Erforschung der früheren DDR beenden. Sie scheidet daher aus. Eine Gesetzgebung muß sich daher an folgenden Gedanken orientieren:
—Es muß zwischen Täter- und Opferakten unterschieden werden.
—Bei den Opferakten muß beachtet werden, daß sie rechtswidrig zustandegekommen sind.
—Die Akten müssen möglichst lückenlos erfaßt werden.
—Sie müssen auf absehbare Zeit in die Verwaltung einer möglichst unabhängigen Behörde gestellt werden.
Grundentscheidungen
1.Die Gesetzgebung sollte noch in diesem Jahr abgeschlossen werden. Sie ist dringend. Es sollte eine möglichst breite parlamentarische Mehrheit angestrebt werden.
2.Der Gesetzentwurf sollte sich nicht nur auf die Stasi-Akten im engeren Sinne beziehen, sondern auch die Akten erfassen, die mit ihnen in einem inneren Zusammenhang stehen und sich teilweise in Privatbesitz, teilweise aber auch in der Verfügung des Bundesarchivs oder anderer Behörden befinden. Akten im Besitz von Behörden sind zusammenzuführen. Bei Akten im Privatbesitz (zum Beispiel das SED-Archiv) muß mindestens der Zugang der Sonderbehörde gesichert werden.
3.Jeder Bürger muß Anspruch auf Auskunft und Einsicht in die sich auf ihn beziehenden Unterlagen erhalten. Dieser Anspruch soll nicht davon abhängig sein, daß ein besonderes rechtliches Interesse nachgewiesen wird. Die in der Sammlung selbst liegende Verletzung des Persönlichkeitsrechtes muß genügen.
Selbstverständlich sollen die Anfragen vorrangig behandelt werden, bei denen ein besonderes Rechtsschutzinteresse besteht, wie bei Rehabilitierungen, Einstellungs- oder Sicherheitsprüfungen, Anfechtung von Urteilen usw.
4.Daten in Opferakten bleiben gesperrt. Sie sind für Dritte nicht verwendbar. Akten, die lediglich in Telefonmitschriften oder entsprechenden Bandaufnahmen bestehen, sollten in entsprechender Anwendung von § 100 b Abs. 5 StPO vernichtet werden.
5.Die staatliche Nutzung der Akten muß auf die Täterakten beschränkt bleiben. Die rechts- und verfassungswidrig entstandenen Opferakten müssen gesperrt, also unbenutzbar bleiben. Das „gestohlene“ Privatleben geht niemanden etwas an.
6.Auskünfte bei Sicherheits- oder sonstigen Einstellungsprüfungen, bei Prüfungen von Mandatsträgern auf allen Ebenen können sich also nur auf den Inhalt von Täterakten beziehen. Noch den allgemein dafür geltenden Regeln ist dazu die Information des Betroffenen erforderlich. Es muß die Akten einsehen können, aus der die ihn betreffende Auskunft gegeben wird.
7.Die Nutzung der Opferakten scheidet für eine Strafverfolgung des Betroffenen nach den Grundsätzen der strafprozessualen Verwertungsverbote über rechtswidrig gewonnene Beweismittel aus. Es ist zu prüfen, ob Ausnahmen in Extremfällen in Betracht kommen, zum Beispiel bei einer Straftat gegen das Leben.
Bei den Täterakten ist nach geltendem Strafrecht zu prüfen, ob eine Straftat nach § 241a StGB vorliegt und verfolgt werden muß. Es ist offen, ob dazu weitere gesetzgeberische Entscheidungen erforderlich sind.
8.Eine nachrichtendienstliche Nutzung der Akten scheidet aus. Der Verfassungsschutz würde in eine irreparable Vertrauenskrise geraten, wenn er sich auf dieses Material stützen würde. Hinsichtlich von Einstellungsprüfungen steht er jeder anderen Behörde gleich.
9.Für die zeitgeschichtliche Forschung scheiden zumindest die Opferakten aus, wenn der Betroffene nicht einwilligt und eine sichere Anonymisisierung nicht möglich ist. Es ist zu prüfen, ob Ausnahmen erforderlich und praktikabel sind bei Amts- oder Funktionsträgern in ihrer dienstlichen Tätigkeit.
Organisatorische Regelungen
1.Die Akten müssen vollständig erfaßt werden. Soweit sich Akten in der Hand anderer Behörden befinden, sind sie an die Sonderbehörde zu überführen. Annexakten müßten zumindest zugänglich sein.
2.Der private Besitz von Stasi-Akten und jede Form ihrer Nutzung [Gemeint ist die Nutzung der im rechtswidrigen Privatbesitz befindlichen Akten, d.Red.] muß mit einer erheblichen Strafe bedroht werden, auch wenn die Akte, Unterlage oder der Datenträger privatrechtlich erworben wurde. Denn niemand konnte über derartige Akten rechtmäßig verfügen. Es sollte eine kurze Frist bestimmt werden, innerhalb derer eine derartige Unterlage straffrei zurückgegeben werden kann.
3.Die Einrichtung eines Beauftragten der Bundesregierung sollte für die Dauer der besonderen Verwahrung der Akten erhalten bleiben. Er und die Behörde sollte dieselbe Rechtsstellung erhalten, wie der Bundesbeauftragte für Datenschutz. Aufgabe der Behörde ist die sichere Verwahrung der Akten, ihre Erschließung für die gesetzlich zulässigen Zwecke und die Bewertung einer vorhandenen Unterlage nach Richtigkeit, Vollständigkeit und Sachzusammenhang.
Dem Beauftragten sollte ein Beirat zur Seite stehen, der aus je einem Vertreter der Beitrittsländer und Mitgliedern des Bundestages besteht.
4.Die Dauer der Sonderverwaltung bleibt offen. Sie muß sich an den schutzwürdigen Interessen orientieren, die in den Opferakten enthalten sind. Es ist eine Regelung denkbar, wonach Opferakten nach einem zu bestimmenden Zeitablauf auf Antrag vernichtet werden, soweit sie nicht aus besonderen Gründen im Einzelfall archivwürdig sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen