Die Konzertsäle bleiben leer Für Kultur keinen Nerv

BesucherInnen nicht nur der Leipziger Kultureinrichtungen haben andere Sorgen, als sich Konzerte anzuhören/ Erst das Fressen und dann die Moral?  ■ Von Sigrid Kühn

Leipzig. Ob es vor allem an den Eintrittspreisen liegt, daß seit Monaten Konzert- und Theatersäle in der Ex- DDR halbleer bleiben, wird zumindest von den Leipziger Einrichtungen bezweifelt. Aber selbst im Neuen Gewandhaus, wo zu DDR- Zeiten der Erwerb einer Karte beispielsweise für ein Gastspiel wie das der Berliner Philharmoniker einem Lottogewinn gleichkam, blieben bei dem Konzert dieses weltberühmten Klangkörpers am 23. Januar 1991 etwa 300 der 1.900 Plätze frei. Der Preis: 54 DM für eine Karte auf dem teuersten Platz, 18 DM auf dem billigsten.

Wenn das Gewandhausorchester selbst spielt, kostet es zumeist nur die Hälfte, und für die Stunde der Orgelmusik brauchen die Besucher nur sechs bis acht DM pro Karte hinzublättern. Doch auch dann bleiben Plätze frei. Ähnlich bei den Kammermusikabenden mit Preisen von vier bis acht DM, von denen deshalb aus Kostengründen die meisten bis zum Sommer vom Programm gestrichen wurden.

Mit Beginn der Saison 1990/91 sahen sich die Leipziger Kulturinstitutionen zu Preiserhöhungen bis zu 100Prozent veranlaßt, um einen wenn auch nur geringen Teil der reduzierten Subventionen abzufangen. Der Besucherschwund, der sich bereits nach der „Wende“ abzuzeichnen begann, ging in die Höhe — Arbeitslose, Rentner, Studenten beispielsweise mußten sparen. Andere Bürger gaben ihr Geld für die Befriedigung neuer Konsumbedürfnisse aus. Außerdem: Vielen fehlte einfach die Zeit für Kultur, weil sie sich mit anderen Dingen auseinandersetzen oder Qualifizierungslehrgänge besuchen mußten.

„Wirtschaftsprobleme sind immer auch Kulturprobleme“, schlußfolgert Bärbel Herrmann, Kassenleiterin des Gewandhauses. Und für ältere Bürger, von denen viele seit Jahren Konzertanrechte haben, komme noch ein weiterer Aspekt hinzu: Sie trauen sich abends nicht mehr auf die Straßen.

Theater und Gewandhaus sahen sich zu Preiskorrekturen veranlaßt oder versuchten, den Kulturgenuß durch „Sonderangebote“ wie Matineen und Anrechtsermäßigungen „sozial verträglich“ zu gestalten, so Lothar Wittke, Leiter für Öffentlichkeitsarbeit der Leipziger Oper.

In diesem Haus kletterte der teuerste Platz auf 25 DM, während die unteren bei fünf und sechs DM belassen wurden. Ein ausgeklügeltes Anrechtssystem bringt Ermäßigungen bis zu einem Drittel, so daß ein Besuch in der Oper ab 3,35 DM und in der Musikalischen Komödie ab 1,35DM möglich wird. Rentner, Schwerbeschädigte, Studenten, Schüler und Arbeitslose zahlen im Anrecht davon noch die Hälfte, und das kann wohl jeder bezahlen.

Im Schauspielhaus wurden nach Auskunft des stellvertretenden Intendanten Gerhard Nodurft die Kosten in der Preisgruppe I von sieben auf 12 DM angehoben, in Gruppe III blieben sie bei fünf DM.

Der Besucherschwund habe weitere Erhöhungen verboten, erläuterte er. Beispielsweise sank die Auslastung des Theaters im 1. Halbjahr 1990 auf knappe 70 Prozent und im 2.Halbjahr — also nach der Preiserhöhung — noch weiter auf unter 50 Prozent. Im Schauspiel kommt zu den wirtschaftlichen Gründen noch ein weiterer hinzu: Was vor der Wende an Systemkritik nicht in den Zeitungen stand, kam oft auf der Bühne, wenn auch verklausuliert, zur Sprache. DDR-Problemstücke seien jetzt „erledigt“, meint Gerhard Nodurft, die Wünsche der Zuschauer richten sich mehr auf Unterhaltung, auch auf seichte, „aber ,Schmiere‘ kommt für uns nicht in Frage“, ergänzt er. Daß er damit zumindest einen Teil des Leipziger Publikums unterschätzt, bewiesen die beiden völlig ausverkauften Gastspiele des Royal National Theatre London Ende Februar. „Theaterereignisse“ sind gefragt, künstlerisch Ungewöhnliches, was dem hiesigen Publikum bisher verwehrt blieb. adn