: Der Zug ist abgefahren
Überwältigende Zustimmung zum Plebiszit in Lettland und Estland wurde in Moskau so nicht erwartet/ Hoher Anteil der Russischsprachigen für Unabhängigkeit/ Taktischer Fehler des Zentrums ■ Aus Moskau Klaus Helge
Das offizielle Moskau hatte gestern morgen noch keine Stellungnahme zur hohen Wahlbeteiligung und dem überwältigenden Ja der Bevölkerung zur staatlichen Unabhängigkeit der baltischen Republiken, Estland und Lettland parat. Lediglich eine knapp gehaltene Meldung der amtlichen Nachrichtenagentur 'Tass‘ gab davon Kenntnis, daß überhaupt so etwas wie ein Referendum stattgefunden hatte.
Auch in Kreisen der Moskauer Opposition wurde der hohe Anteil der russischen Bevölkerung, der sich für Unabhängigkeit von der Union ausgesprochen hatte, mit großer Überraschung registriert. Pawlowa Filjanskowa, von der Oppositionellenvereinigung Moskauer Tribüne, meinte dazu spontan: „Jetzt ist der Zug endgültig abgefahren. Die Bevölkerung hat politische Reife bewiesen.“ Hätte das Referendum noch vor dem gewaltsamen Einsatz sowjetischer Militärs in Vilnius und Riga stattgefunden, so glaubt man in Moskau, wäre die Zustimmung wesentlich schwächer ausgefallen. Die Gewalt aber habe einen tiefsitzenden psychologischen Schock ausgelöst. Das Referendum könnte nun ein Anfang sein, die russische Bevölkerung stärker in das allgemeine politische Geschehen der Republiken zu integrieren. Die klare Stellungnahme zur Unabhängigkeit läßt nunmehr auch die Anschuldigungen Moskaus in einem anderen Licht erscheinen, wonach die russischsprachige Bevölkerung im Baltikum starken Repressionen ausgesetzt ist.“ Die Spannungen existieren mehr auf dem Papier und in den Massenmedien“, meint Frau Filjanskowa, die den baltischen Regierungen zugute hält, daß sie ihre nationalistischen Positionen in der letzten Zeit korrigiert hätten.
Heikel wird die Lage jetzt für das Zentrum, das nach wie vor plant, am 17. März ein Allunionsreferendum abzuhalten. Darin soll über die Beschaffenheit einer neuen Union abgestimmt werden. Doch sechs Republiken haben sich schon geweigert, daran teilzunehmen. Wohl kaum einer wird im Baltikum nun ein zweites Mal zur Urne gehen. Insofern ist der Effekt, den das Zentrum mit der Volksbefragung erzielen wollte, schon jetzt dahin.
Indes haben die baltischen Republiken erreicht, was sie wollten. Auch wenn die Ergebnisse keine juristische Kraft besitzen, so haben sie die Legitimität der Regierungen unterstrichen, die ihnen Moskau bisher absprechen wollte. Durch die Unterstützung der russischsprachigen Bevölkerung hat sich zudem der Akzent, der bisher auf dem nationalen Konflikt lag über Nacht auf den politischen Gegensatz verschoben. Das befördert noch einmal mehr, wie Frau Filjanskowa es formuliert, die „Internationalisierung“ der baltischen Frage. Mit dem Allunionsreferendum habe sich Moskau selbst noch mehr Schwierigkeiten geschaffen, als es sowieso schon hatte.
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