: Von Spatzen, Adlern und Falken
Beobachtungen vom 7.Geraer Festival für den deutschen Kinderfilm „Goldener Spatz“ ■ Von Dietmar Hochmuth
Nach Gera fuhr ich mit derselben zwiespältigen Neugier wie im Herbst nach Leipzig zur gewendeten Dokumentar- und Kurzfilmwoche. Ein Festival, das sich sechsmal im Abstand von zwei Jahren als „Nationales Festival für den Kinderfilm der DDR in Kino und Fernsehen“ präsentierte (und sogar einige internationale Geltung erlangte, die übrigens weniger umstritten als die Leipziger war), wollte sich nun zu einem — laut Grußwort des neuen Oberbürgermeisters — „gesamtdeutschen kulturellen Ereignis“ mausern. Weniger umstritten allerdings war seine bisherige Geltung nur, weil Kinderfilm nicht automatisch so viel mit Realität zu tun hat wie Dokumentarfilm; und in der DDR schon gar nicht, zumal hier in den letzten Jahren unverbindliche Unterhaltung Vorrang hatte.
Die Vollsubventionierung des Kinderfilms ist ein typisches Stück DDR-Geschichte, spiegelt es doch, wie in einem Tautropfen konzentriert, die ganze Ambivalenz von Reichtum und Dilemma verflossener Einheitskulturpolitik: „Vater Staat“ pumpte mit einer aus heutiger, fast schon historischer Sicht rührenden Regelmäßigkeit Geld in die Herstellung von weit mehr Kinderfilmen für Kino und Fernsehen als in der Bundesrepublik — trieb aber damit zugleich in eine „ideologische Bringepflicht“ (denke niemals böse über einen Ernährer!), und die meisten ließen sich auch gleich kollektiv verlocken, so sehr kaum jemand heute noch daran erinnert werden will. Dabei entstand (und nicht einmal „trotzdem“) über viele Jahre eine beachtliche Kinderfilmproduktions- und Abspielkultur, wogegen die Filme selbst — nicht erst in der Rückschau — mit dem Vorwurf werden leben müssen, ästhetische Erneuerung, gespeist aus der Reibung an Realität, aktiv versäumt zu haben. Zwischen der Strömungsgeschwindigkeit von Fördermitteln und zwingenden Gründen, den einen oder anderen Film zu machen (sprich: Einfälle), gab es manchmal nur wenig Korrespondenz, und die kalendarisch gesicherte Stützung verführte auch zu allerhand Gemütlichkeit — ein edler Klub von Kinderfilmern (mit begrenzter Aufnahmekapazität: „Hier werden Sie plaziert!“) etablierte sich; sie beherrschten auf staatsmonopolistische Weise in den letzten zwanzig, dreißig Jahren das einzige und also beste Feld, und ihre Filmografien schwollen erheblich schneller an als bei jedem anderen Kollegen, der sich irgendwie an DDR-Wirklichkeit die Zähne ausbiß.
Jüngere schließlich fanden kaum Einlaß, es sei denn, sie erfüllten zweifelsfrei die Normen des „erprobten Standards“. Nur eine Sache entzog sich mehr und mehr der Kontrolle: Das Publikum geriet immer jünger als die alternden Macher — es wuchs nämlich planlos nach, mit Bedürfnissen, die kaum erforscht und oft nur mit Kopien von Kopien gestillt wurden. Dabei fand der DDR-Kinderfilm im Ausland auffällig mehr Anerkennung als im Inland, wo die inhaltliche Diskussion eingedämmt war durch die bekannten Reaktionsmuster Stolz, Erfolgsdenken, Fassade (als Spielart von: „Keine Fehlerdiskussion!“) — dieser Zuspruch, besonders aus dem deutschsprachigen Westen, hing jedoch in erster Linie mit den Förderdimensionen zusammen und wohl auch damit, daß die engagierten Kinderkinos sich verhältnismäßig leicht aus dieser Richtung Programmangebote verschaffen konnten, welche dort kein Mensch zu finanzieren bereit gewesen wäre (und heute ebenso, wie die Wettbewerbsbeiträge aus dem Altwesten zeigten). Zugleich wurde mit Kinderfilmexport einiges Geld verdient, womöglich mehr als mit „Erwachsenenfilmen“, was ebenfalls seinen Grund darin hatte, daß Unverbindlichkeit bei Filmen für kleinere Zuschauer verkraftbarer scheint, ja geradewegs „elterliche Verabredung“. So produzierten die DDR-Kinderfilmer in einem staatlichen Naturschutzgebiet, das sie gleichsam hermetisch vor Kritik schonte, und entsprechend sah die Berichterstattung aus Gera aus: Alle überregionalen und erst recht die Provinzzeitungen zählten Vorführungen, Kinder und Filmgespräche auf und ab, beobachteten von Jahr zu Jahr steigende Tendenz. Auch hier nahm also die Lage ständig zu, und wenn sich doch mal jemand fand, der da Einschränkungen an den Ergebnissen und der Richtung eines zunehmend blinden Vorwärtsmarsch- Miefs formulierte, dann fielen Macher, Kritiker und Filmpolitiker in einer Weise „einmütig“ über diesen einen Nestbeschmutzer her, die an die berühmten Wahlergebnisse von 99,98 Prozent erinnerte.
Man schrieb Briefe im Namen von Parteileitungen, der Menschheit und natürlich auch im eigenen Namen an die eine einzige Zeitung, die es wagte, anders als die übrigen 39 zu berichten, rechnete die „überwältigende Mehrheit der zahllosen konstruktiven Berichte“ als Argument gegen den einen auf, bis sich die Redaktion nach drei solchen Attacken erweichen ließ und zusagte (im traurigen Sommer 89 war's), nie wieder einen so unkundigen Anschwärzer der sozialistischen Errungenschaft Kinderfilm als Berichterstatter nach Gera zu entsenden.
In Zeiten der sich täglich ausweitenden Volkskrankheit „allgemeines Vergessen“ hier eine Kostprobe von 1985. In einem Brief, unterzeichnet von Machern, hieß es: „In unserer führenden, weil einzigen kulturpolitischen Wochenzeitung hat zuerst Kulturpolitik, nicht ästhetische Taxierung stattzufinden. Das Festival ,Goldener Spatz‘ ist ein Wettbewerb, der international seinesgleichen sucht. Daß dies bereits ein viertes Mal, also seit nunmehr acht Jahren geschieht, und zwar mit steigender Qualität, verdient, eine kulturpolitische Großtat genannt zu werden. Die Reduzierung auf einen Spielfilmreport, geschmäcklerische Stippvisite in die Bereiche Dokument und Animation verleugnet die eigentliche Leistung, verzerrt das Bild des Festivals, verkennt letzten Endes auch den Wert einzelner Beiträge für die Entwicklung jenes spezifischen Zweiges unserer nationalen Kultur. So hübsch die Autorin auch schreibt, so sehr sie für alle ästhetischen Notierungen zuständig sein mag — für eine kulturpolitisch belangvolle Wertung hat sie sich, nun bereits zum zweiten Mal, (vgl. 'Sonntag‘ 10/1983) als nicht zuständig erwiesen...“
Mit dieser „Altlast“ unvergleichlicher Erinnerungen im Gepäck fuhr ich also nach Gera und fand trotz der rührend gelben Pappspatzen aus dem Fundus „Winkelemente und Sichtwerbemittel“ eine Geisterstadt vor, der in diesen Tagen ganz und gar nicht nach Festival zumute war. Ich erlebte den scheibchenweisen Niedergang eines Festivals, eines letzten (besseren) Stückchens DDR.
Gera, bis zum Herbst eine von vier Bezirksstädten, sogar noch eine von den gepäppelten — wegen Zeiß, Wismut und der Mikrolelektronik — siecht heute zwischen Abbau des Sozialismus und Gründerzeit, die leider Zugverspätung hat, dahin. Ein Dunstschleier von Abwicklung und freiem Fall, Selbstverleugnung und Hinüberretten überzieht die winterliche Stadt, die ja schon immer tot war, aber heute noch toter denn je scheint, auch wenn ich weiß, daß die Grammatik solche Steigerungsformen nicht zuläßt.
Die erste Konfusion setzt im Bahnhof ein: Ein ganzes Rudel Droschken gähnt in der Wintersonne, wie früher die Fahrgäste. Es fahren nämlich auffällig viele neue Taxen in Gera, das heißt sie stehen. Wie das kam? Ganz einfach, wie in allen Städten: Auf einem Parkplatz lauerten sie, elfenbeingelb mit dem dreizackigen Stern auf dem Kühler, fabrikneu und gebraucht, daneben ein Zettel: „Nur unterschreiben!“ „Hab' gar keinen Stift mit...“ „Macht nichts, hier haben Sie einen, können Sie behalten, und noch einen für die Gattin...“
Der Chauffeur verfährt sich, fährt zum Hotel Gera, so heißt jetzt das bisherige Interhotel (heute ein Etablissement der Deutschen Interhotel AG), statt zum Hotel Stadt Gera. Oder umgekehrt, jedenfalls falsch. Keiner kennt sich aus. Die Tilgung der Namen und Titel ist maßlos verwirrend. (Wohl nur eine Art Straßenname, den es in der DDR landesweit gab, wird bleiben: „Platz der Einheit.“) „Wenn das weiter so geht, ohne Fahrgäste, streiken wir“, sagt der Taxifahrer, „macht alles keinen Spaß mehr!“ — „Macht alles keinen Spaß mehr...“, sagte auch eine Kellnerin und setzt noch hinzu: „Das Leben!“ Gravierender aber als der Verfall von sogenannter städtebaulicher Substanz ist der von Würde, eine Versehrtheit von Würde, die man sich, will scheinen, früher in diesem Maße nicht nehmen ließ.
In einer Kneipe ist einem Kunden das Bier zu warm, schließlich habe er „in West“ zu zahlen. Ein anderer moniert bei der bald schon verzweifelten Kellnerin die Thüringer Klöße: „Könnt Ihr selber essen; ich weiß, was Thüringer Klöße sind!“ In wenigen Sekunden erscheint der Koch, die Hacken zusammengeschlagen wie noch nie in den letzten vierzig Jahren, zumindest nicht vor einem Kunden aus dem WirsinddasVolk. Nun muß er abzahlen für eine ganze historische Epoche und bringt Salzkartoffeln: „Wollen Sie reklamieren, oder schmeckt es Ihnen einfach nicht?“ Der Kunde, bisher in der DDR nur König, demütigt mit einer sadistischen Wonne seinen bisherigen Kaiser. Und er ahnt nicht mal, daß er und die ehrlich bemühte Kellnerin, Marx hin, Marx her, ein und derselben Klasse von Besitzlosen angehören. Da sie beide vielleicht nie auf der Seite der Besteller landen werden... — und alles nur eine Frage von Monaten ist. Die Kneipe wird dem gehören, der sie kauft, und das steht in den Sternen („Wir hängen auch in der Luft!“). Der holzgetäfelte Raum hat etwas von einem DEFA-Atelier — hier könnten noch lange nostalgische Filme aus der alten DDR gedreht werden — incl. „Verordnung zum Schutze der Kinder und Jugendlichen der DDR vom 26. März 1969“ an der Wand. Man müßte lediglich den „Come-together-Aschenbecher“ wegstellen. Und doch erscheint mir irgendwie seltsam, daß ich hier das traditionelle DDR-Menü „Steak-Letscho mit Champis“ plötzlich in DM bezahlen muß. Die nervöse Kellnerin versucht aus diskreter Entfernung den wenigen Kunden jeden Wunsch von den Lippen abzulesen — ihre Geduld reicht nur nach außen hin bis ins schier Unendliche. Solche Episoden wie mit dem Bier oder den Klößen passieren ihr hier täglich: „Weiß auch nicht, was in die Leute gefahren ist, die drehen alle irgendwie durch“, sagt sie und: „Das haben wir alle nicht gewollt!“ „Gewollt oder gewählt?“ frage ich. Sie meint, sie habe es nicht einmal gewählt, was immer das in Thüringen heißen mag...
Eine Mitarbeiterin des Festivals, bei der ich mich nach dem neuen Bürgermeister erkundige, sagt: „Schon immer CDU!“, wie als Vertrauensausweis, und setzt einen Seufzer nach: „Ja ja, es heißt immer, Thüringen hat Schwarz gewählt..., diese Farbe wird der Partei noch ewig anhängen, dabei können die gar nichts dafür, meinen es eigentlich so gut.“ Indes: Die Aggressivität ringsum wächst beinahe stündlich. Von 10.000 Einwohnern sollen 40.000 arbeitslos sein, 20.000 pendeln täglich ins Mutterland, nach Nürnberg und Fürth — nur keine Firmennamen nennen! Mit Bussen und Autos, nachts um zwei starten sie; abends, gegen sieben, geht's mit dem Sandmann ins Bett. Dabei sind auch diese Zahlen längst keine endgültigen — die Statistiken können als traditionell geschönt gelten, sozusagen auf Pump, wenn erstmal Warteschleifen austrudeln, Kurzarbeit und Kündigungsschutzklauseln aus dem Staatsvertrag wegfallen — Stichtag 1.Juli..., für die Schwerindustrie zum Beispiel — bis dahin wird sich die einst 98,95 Prozent breite Front der DDR-Werktätigen in Arbeitgeber und Arbeitnehmer „aufsplitten“, wie es jetzt auch hier neuthüringisch heißt. Bis dahin bleiben die Bürgersteige erstmal nicht nur hochgeklappt, sondern verlötet. Ins Kino gehen, wie zu erfahren war, nur noch 15 Prozent, gemessen an „vorher“. Dieses „vorher — nachher?“ ist überhaupt die große Frage und: „Wem gehört's?“
Eine rühmliche Ausnahme war da „Comma“, der Festivalclub. Bei solchen neuen Namen (wie auch „come in“, dem ehemaligen Stasi-Kulturhaus in Berlin-Adlershof) vermutet man schnell umgetaufte DDR-Vergangenheit. Und richtig: Das Haus wurde vor hundert Jahren gebaut für die „Bürgererholung“, bis 1933 die Nazis ihren Polit-Bierkeller draus machten (ein „Horst-Wessel- Haus“), nach 45 wurde es Gewerkschaftshaus, dann Pionierhaus, dann schließlich Hochsicherheitstrakt, nämlich SED-Bildungsstätte. Heute kommt „Comma“ von Kommunikation, beherbergt im Erdgeschoß den Behindertenverband und bemüht sich mit sieben Leuten, die alles allein machen (ohne daß sie gleich meinen, der Laden gehöre jetzt ihnen), um alternative Kulturangebote: kein leichtes Unterfangen in einer blitzkriegartig von Video- und Discowut überzogenen Landschaft.
In Gera herrscht aber nicht nur Apathie, es gibt auch Optimisten, na, und der „Goldenste Spatz“ der vergangenen Jahre, Konrad Weiss, schickte ein Grußtelegramm aus Bonn an die daheimgebliebenen Brüder und Schwestern Kollegen (mit dem Leib in Bonn — der Seele ganz bei euch). Und einige Dinge haben sich wahrlich unübersehbar verändert: Im Kino regieren jetzt die drei Eisheiligen (Langnese, Dr.Oetker und Mövenpick) noch gleichzeitig. Oder: Anstelle der früher obligatorischen Pionierleiterin saß diesmal eine Katechetin in der Jury — ist es gar dieselbe Person? Von der Pionierleiterin zur Katechetin — dieses Volk hat seine Geschichte verdient, könnte man meinen, blieben davon die Nachbarn bloß unbehelligt!
Nur der FDJ-Zentralrat ist nicht totzukriegen: Jugendfreund Reuter, der Anfang der 8Oer Jahre zur idelologischen Aushärtung des DDR- Fernsehens nach Adlershof abkommandiert wurde und dort im Auffangsieb Kinderfernsehen, man kann sich vorstellen mit welcher Kompetenz, für „Ruhe im Karton!“ sorgte, kam heute nach Gera als Chef des DFF- Mittagsmagazins, doch nicht nur das: Er hatte sich auch gleich die bestimmt nicht ehrenamtliche Inszenierung der Gala des großen Kinderfilmfestes gesichert, die erwartungsgemäß in der Verbrüderung der bisherigen Todfeinde an der ideologischen Front, Samson und Sandmann, Donald Duck und Schnatterinchen, gipfelte. Aber was soll's: Sein ehemaliger Chef Werner Hannig wurde in der mittlerweile längst verklärten Modrow-Ära ja auch für die Strukturveränderungen infolge der friedlichen Revolution im Fernsehen abgefunden mit einem nicht weniger lukrativen Posten, als er unerkannt im Wellenbad des Ostberliner Sport- und Erholungszentrums auftauchte, und zwar nicht einfach so, sondern als oberster Hausherr. Auch er war so ein Einweggeschenk des Zentralrats und, wie man sich vorstellen kann, hier die gebündelte Kompetenz in Person — nach so vielen Jahren als Diplomeinpeitscher erhöhter Wachsamkeit.
Jeder dieser Jugendfreunde, auch wenn sie heute in dunklen Anzügen und bald mit Rolex-Uhren herumlaufen, liefert, und das ist das Schlimmste, keine allzuguten Argumente gegen Abwickelei und Austrocknung. Manchmal scheint mir, der Sumpf kocht erst noch hoch und ist gar nicht trockenzulegen.
Den größten Optimismus hatte allerdings der Oberbürgermeister, diesmal keine Leihgabe aus dem Mutterland, sondern aus dem Nordostddeutschen: „Zwei Jahre sind eine relativ kurze Zeitspanne“, hieß es in seinem Grußwort. „Seit dem letzten Flug des ,Goldenen Spatzen‘ ist etwas Einmaliges in der Weltgeschichte geschehen: Eine friedliche Revolution siegte“ mit „Öffnung der Grenzen, Währungsunion, Tag der Deutschen Einheit.“ Nun stehe Gera erstmalig als gesamtdeutsches kulturelles Ereignis. „Früher war der Spatz rotgold, jetzt ist er richtig golden...“ Wenn er doch wenigstens gesagt hätte: schwarzrotgold!
In Wirklichkeit allerdings war sein Spatz vor allem frei von Kindern, nichts war mehr organisiert (außer den besagten Pappspatzen aus dem Altlastenfundus von vor zwei Jahren), keine Bevormundung mehr wie im Kindergarten meines Sohnes, wo Freiheit eben alles ist und das Kind sich so sehr selbst überlassen, daß es seine vermißte „Beschäftigung“ (so hieß in der DDR „Vorschulunterricht“, stalinistischer Prägung natürlich) nun allein mitbringt.
Ja es war der erste gesamtdeutsche Spatz, doch noch nie war er so provinziell. Früher avancierte Gera zu einem Eldorado für Gäste aus vielen Ländern, besonders aus dem Westen, auch für Scharen von Journalisten, großzügige Einladungen sicherten die Aufmerksamkeit in Fachkreisen, alles gratis und noch billiger — diesmal fehlten Ausländer und Presse gänzlich, auch das Fernsehen, damals Mitveranstalter, hat sich zurückgezogen. Statt dessen stand nun über allen Filmen: „Produktion Deutschland“, auch über denen von 88/89, genauso wie die DEFA offensichtlich schon immer eine GmbH war. Das erinnerte mich an eine Briefmarke, die vor ein paar Jahren herauskam: „225 Jahre Akademie der Wissenschaften der DDR“ — neuer Etikettenschwindel.
Eine Epoche frißt die vorangegangene auf als wäre nichts passiert. Dagegen präsentierte sich das Hotel zur Zeitenwende noch erstaunlich ambivalent: Es entsorgte die Schrankwände der Direktion, speziell die Schublade Gastgeschenke, und offerierte den Gästen mit rührender Großzügigkeit eine Plakette aus Meißener Porzellan, „Interhotels der DDR“, sowie einen Telefonmerker „Hotel Gera, DDR, Straße der Republik“, mit aufgeprägtem Festpreis (VEB Goldring EVP 12,00 M) — alter Tand an der Grenze zwischen zwei Welten, auch die Preisliste der unangerührten Minibar trug die Maßeinheit Mark/ Valutamark, und der Wein kann mittlerweile als gelagert gelten, er kam aus Ungarn. Die neuen Attribute dagegen zählen zu den Liegenschaften — im Wertfach liegt Das Neue Testament mit dem Hinweis: „Lassen Sie dieses Buch für weitere Gäste in Ihrem Zimmer bitte liegen!“, auf dem Tisch ein Schreiben des Marketingdirektors, der da hofft, „daß das Festival wie immer erfolgreich verlaufen wird“, und das Hotelfernsehen ist natürlich einschlägig verkabelt. Ansonsten sucht das Hotel die „geschätzte Aufmerksamkeit“ der Gäste mit Sprüchen auf Tafeln wie: „Wir für Sie!“, „Beehren Sie uns“, „Hocherfreut“ eher vergeblich — das Restaurant im Erdgeschoß war am Samstag abend so leer, als sei es von „unsichtbaren Jungs“ für die Ankunft des Generalsekretärs und Vorsitzenden des Staatsrates abgesperrt worden: Dutzende Kellner, Gewehr bei Fuß, nur es kommt nicht ein Gast, Unverschämtheit!
Wäre, wie gesagt, nichts passiert, hätten sich die meisten Alt-DDR- Filme von Gera wieder den pauschalen Vorwurf gefallenlassen müssen „Realitätsferne, Verharmlosung, altbackene Kinderweltbilder in Niedlichkeit und Verklärung, abgefilmtes Kindertheater“; doch nun ist alles, auch die besondere Sorge des Staates für den Kinderfilm, so definitiv zu Ende, ja am Ende, daß beinahe Mitleid aufkommt, ein Bonus — wie, wenn man über Tote nichts Schlechtes sagen soll. Insofern war unverständlich, warum die wenigen letzten Kinderfilme aus der DDR noch einer Auswahl unterlagen — so viele wird es in absehbarer Zukunft in Deutschland nie wieder geben, wenn es um eine Rückschau auf die letzten Jahre geht. Heute, da der DDR-Kinderfilm bereits als historisches Phänomen abgeheftet werden muß, verstehe ich im nachhinein fast die einstige Zurückhaltung der Westgäste bei Kritik an dem, was als Errungenschaft über alle Auseinandersetzung erhaben zu sein hatte. Nur die alten „Haudegen“, aus Pionierhaus und Bezirksfilmdirektion zum Beispiel, sind wie in dem Märchen von Hase und Igel „all hie“, unbeirrt vorneweg. Das eine heißt jetzt „Ostthüringische Lichtspielkette GmbH“, der andere „Freizeitklub“... Es ist schon erstaunlich, wie schnell die „vorbildlichsten Kommunisten“, so jedenfalls sahen sie sich ja, bereit waren, ihre Embleme auf den Mist zu werfen, Thälmann-Stelen abzuschrauben und ihre Häuser umzubenennen. Und der Bezirksfilmfürst hatte noch 1989 Filmdiskussionen, etwa mit Helke Misselwitz in Jena, untersagen wollen. Aus dieser alten Zeit stammte auch ein schöner Dauerversprecher der rührigen Ansagerin: „Schöpferkollektiv, äh, ich meine natürlich Team...“, oder die Realismus-Standardfrage „Was ist typisch?“, und wohl unerkannt lief der alte Trailer zur Musik des sowjetischen Pionierliedes „Immer lebe die Sonne!“.
Das einschneidendste Novum dieses Festivals jedoch war — trotz Schulferien und nur einer Mark Eintritt — die chronische Abwesenheit von Kindern, und dann hat der „Goldene Spatz“ bei allem Zusammenkratzen von Geldquellen und Sponsoren immer noch zuviel gekostet. In der DDR waren die drei „nationalen Festivals des Dokumentar-, Spiel- und Kinderfilms“ per Dekret auf drei Provinzregionen verteilt worden — in der Absicht, sie durch die Begegnung von Machern und Publikum zu beleben (Neubrandenburg, Karl- Marx-Stadt [heute Chemnitz], Gera), das Dekret ist nun hinfällig. Aber wenn wirklich keiner mehr in die Kinos kommt, dann muß es nicht in Gera sein, zumal traditionell einen Tag später das Kinderfilmfest der Berlinale beginnt. Und einen Austausch unter Machern wie früher gab es ebenfalls nicht. Jeder wurde nur für einen Tag eingeladen, und die Buchte im Hotel war angesichts der aktuellen Beschäftigungslage mit 135 DM für vier Quadratmeter Thüringen wirklich zu teuer zum Selbstbezahlen. Ihr Bauplan wurde seinerzeit bestimmt verwechselt (oder vereinheitlicht?) mit dem fürs Kombinat industrieller Broilermast. Gespräche gab es diesmal ohnehin nur noch zwischen Deutschen aus O und W, aber sie liefen komischerweise sperriger denn je, als täten sich jetzt neue Gräben auf. Wie zwischen Konkurrenten, zumal der Förderkuchen gleich klein geblieben ist — nur die Tafelrunde wurde größer. Am Ende schaukelten sich Mißverständnisse und Nichtakzeptanz zu dem Vorwurf hoch: „Na, ihr habt doch den Kohl gewählt!“, dem schließlich mit „Na, von wo kommt der denn?!“ begegnet wurde. Solcherart Ausruf erhob sich angesichts der mehr als unsicheren Zukunft deutschen Kinderfilms und gleichsam im Gedenken an jene Milliarden, mit denen weit weniger förderungswürdige Produkte und Vorgänge in der Welt gestützt werden als Filme für Kinder — der Golfkrieg zum Beispiel wurde nur denkbar zaghaft ins Gespräch gebracht.
Auch die DEFA Babelsberg machte in ihrem Sterbejahr nur noch einen Kinderfilm, zudem einen schlimmen: Es war die einzige Premiere und zugleich das Ärgernis von Gera. Olle Hexe sollte der Einstieg in die Welt der phantasy sein — dabei hat die Autorin Anne Goßens sich wohl eher einen Computer gekauft und alle Schnipsel aus der bisherigen Arbeit als Dramaturgin an den Spuk-Serien beim Fernsehen noch einmal ausgedruckt: Zwei Kinder fahren mit dem Fahrstuhl ins Reich einer bösen Hexe und fitzen sich nun über eine ganze Filmlänge dort wieder heraus, durch verrauchte Öko-Kraterlandschaften und vorbei an allerhand anderen winkenden Zaunpfählen. Dümmlicher Horror an sich — ohne Pfiff, eine seltsame Hilflosigkeit. Zumindest von Regisseur Günter Meyer hat man schon viel Besseres gesehen. Ähnlich hilflos muß man bei der Weichenstellung im Dresdner DEFA-Studio für Trickfilme geglaubt haben, forsch auf die Zukunft reagieren zu müssen: Die Spur führt zum Silbersee, genauer nach Radebeul zu Karl May. Ein blank naturalistischer Spielfilm, aus der Pappe sächselnder Puppen.
Ein Lichtblick dagegen war die Verleihung des Hauptpreises an Rückwärtslaufen kann ich auch von Karl-Heinz Lotz (DEFA 1989), ein Film, der das Kindsein (hier eines behinderten Mädchens) — wenn auch mit einer gewissen populärwissenschaftlichen Diktion — nicht glättet, sondern problematisiert. Leider hatte Lotz' jüngster Film Die Mauerbrockenbande (eine Koproduktion von DEFA, Regina Ziegler und ZDF) die Auswahl nicht passiert, übrigens genausowenig wie die beiden Berlinale- Kinderfilmfest-Beiträge Deutschlands, die von der DEFA kamen, aus deren Vor-GmbH-Zeiten. Den Kopfschuß allerdings versetzte sich das Festival mit dem bereits erwähnten Filmfest, das zeitgleich zu Vorführungen die letzten Kinder aus dem Kino lockte. Eine Mischung aus noch real existierendem „Haus der Kultur“, sprich: Klubhaus der Werktätigen, und Musikantenstadl — ein Blauer Bock der Ex-FDJ für Ex-Pioniere. Mit David Hasselhoff vom Band (I've been looking vor freedom), Alfs deutscher Synchronstimme auf der Bühne, die — zwar kaum wiederzuerkennen, aber angeblich für 6.000 DM Gage — Auf der Mauer sitzt 'ne kleine Wanze sang, im Playbackverfahren natürlich; dem Ensemble der Bergarbeiterinnen und einem Cancan sowie den populärsten Kinderfilmfiguren, so ergab ein Umfragespiel, Asterix und Obelix. Schließlich wird mit Discowucht den kleinen Gästen der letzte Rest ostsozialistischen Gehirns ausgepustet, die Eltern indes haben, wohin man seinen Kopf auch steckt, nur ein Thema: Prozentanteile bei Kurzarbeit, Warteschleifen, Wochenentgeld usw.
Im Foyer steht ein Tisch der „Fa. Schmidt Video — Ihr persönlicher Videoservice“. Alte DDR-Träume (weil -Defizite) sollen jetzt die Tellerwäscherstory wahrmachen: eine Minute lang eine stehende Königin, ach ja, es ist ja Fasching und nicht Golfkrieg, unbeweglich, dann: Die Mutter bringt sich nämlich um hinter der Kamera, animiert die Tochter zu einer Regung, macht Faxen, bis Leben ins leider nicht ausgeleuchtete Gesicht kommt. Bis sie einschreitet; immerhin kostet die Minute eine Westmark, und sie machen zusammen Ringelringelreihe, aber die Gesichter bleiben schwarz. So kann sich jeder hier hinstellen mit jedem Job als persönlichem Service, der eine mit Videokamera, der andere mit einer Mercedes-Taxe — was früher knapp und selten war, wird heute noch immer mit dem Heiligenschein von Intershop und Westpaket angeboten, nur der Verbraucher enttäuscht diesmal, anders als früher. Woran mag das nur liegen?
Spatzen und Adler hielten sich dieser Tage im Stadtbild die Waage — ansonsten war Gera noch gesamtdeutscher, einheitlicher etwa als Berlin: Die Post schmückt ein Adler, über dem Delikatladen klebt 'West‘. Es gibt hier interessante Straßenbahntarife: „Kurzstrecke 20 Minuten — 50 Pfennig, Normal 40 Minuten — 1 Mark“, wie eine Einladung zur Karussellfahrt in die real existierenden Trabantenstädte. Die Buchhandlung „Karl Marx“ teilt sich ihre Aufschrift jetzt mit dem Deutschen Bücherbund. Daneben die zwei Kathedralen der Stadt, eine alte evangelische Kirche und der gelbweiße Commerzbankcontainer. Noch stehen nur Leute vom Zirkus davor und bitten um Geld für ihre Ponys.
An einer Kebab-Bude höre ich ungewollt den heimlichen Wunsch eines Thüringers mit, der zum Verkäufer sagt: Wenn er im Westen endlich einen Job findet, dann zieht er „nichts wie hin“. „Bloß weg und abtauchen“ ist die Devise. „Ehemaliger DDR- Bürger“, wie sie überall einladend umschrieben werden. Wer will schon für immer als entfernter Verwandter angesehen werden, der das gute Wohnzimmer unkündbar belegt hat! Also gilt es, Spuren zu tilgen. Die alte Ost-Nummer am Ascona zum Beispiel: „...'ne neue gibt's nur für 'ne Neuanmeldung! Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen“, philosophiert der Kebab-Buden-Alleinunterhalter. Tatsächlich: Die richtigen Neu-Wessis haben schon die richtigen Buchstaben „EIS“ (wahrscheinlich Eisenacher) am Kühler ihres Vectra. Indes belagert eine ganze Wagenburg (vornehmlich gebrochen deutschsprechender Kleinhändler) mit Münchner Kennzeichen den Kulturpalast. Auch die begehrten Spiele der hierzulande neuen jugoslawischer Mitbürger von Ku'damm und Kantstraße haben die Straßenunterführungen von Gera erreicht und erhärten wirksam so manches Vorurteil aus der Schußlinie „Ausländer raus!“. Passanten staunen: So einfach gewinnt man erst hundert Mark und verliert dann vierhundert. Die Kommentare schaukeln sich rasch hoch von „sollen erst mal richtig arbeiten gehen“ bis „vergasen“ — die das sagen, sind bestimmt schon arbeitslos, und da kommt mir der grimmige Gedanke, wie würde wohl diese erwerbslose Geisterstadt auf eine Annonce reagieren, die etwa so lautet: „Suchen junge kräftige Männer zur Verteidigung der soeben gewonnenen Freiheit (ggf. auch in Wüstenregionen)“.
Atemnot kommt auf, ich muß weg aus dieser Stadt, auch Eduschos Bäckerschilder, blaue Fahnen von VW und rote (von Coca Cola) machen sie nicht bunter. Doch es geht nur langsam: Durch die vielen Pendler ist die Autobahn verstopft, ein bedrohlicher Rückstau reicht bis zum Hermsdorfer Kreuz. Sogar ein Geldtransport kommt zum Stehen (wahrscheinlich sind das die berühmten nicht abgerufenen Kredite...). Ein Opel der VP, der erste Buchstabe ist weggestrichen, kommt ihm zu Hilfe — man weiß ja nie, was in der Meute Stau alles passiert, die Leute könnten ja durchdrehen. LKW-Kolonnen (Massa, Aldi, Penny) machen die Autobahn für die Ureinwohner zur Todespiste... Gera, heute Eldorado für Auflöser und Neugründer, Treuhändler und Verwaltungshelfer aus dem Altwesten mit hohen Aufwandsentschädigungen für soviel Dreckarbeit und miese Infrastruktur: In der Woche sollen hier die Hotels, Parkplätze und besonders die Nachtbars sämtlich überfüllt sein — eine Stadt im Spannungsfeld zwischen Abwicklung und Übernahme, Selbstaufgabe und Hinüberretten. Wenigstens ein handfestes Ergebnis hatte dieses 7.Festival Goldener Spatz: Die Planstelle für die Organisation des nächsten ist sicher, egal was kommt, denn das offenbar ewige, tiefsitzende Berichtschönungssyndrom mündete in der, DDRlern durchaus vertrauten, Entscheidung der neuen Stadtväter: „Gera, jetzt erst recht!“
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