: Koma-Patienten dämmern im Pflegeloch dahin
■ Der Verband der „Schädel-und-Hirn-Patienten in Not“ beklagt totale Versorgungslücke in der Bundesrepublik
Es sollte nur ein Routineeingriff an der Nase sein. Die zweijährige Marlene aus München wurde ins Krankenhaus eingeliefert und operiert. Doch aus der Narkose ist sie bis heute nicht mehr erwacht. Ein Fehler in der Anästhesie während der Operation — Sauerstoffmangel, schwerwiegender Hirnschaden. Seit drei Jahren schwebt das Kind zwischen Leben und Tod im sogenannten „apallischen Durchgangssyndrom“. Marlenes Schicksal teilen in Deutschland jährlich fast 40.000 Menschen. Längst nicht alle werden Opfer ärztlicher Kunstfehler. Die meisten erleiden schwere Verkehrsunfälle oder verunglücken beim Sport. Ein Teil fällt nach Gehirnblutungen und Schlaganfällen ins Koma.
Nach dem Überstehen der akuten Komaphase dämmern sie als Apalliker in einer Art „Wachkoma“ dahin. Das kann Monate, aber auch Jahre dauern. Die meisten sterben am Ende. Der Patient empfängt zwar Reize von außen, aber wegen seiner eingeschränkten Gehirntätigkeit kann er selbst gar keinen oder nur äußerst begrenzten Kontakt zur Umwelt aufnehmen. Bei angemessener Behandlung, Pflege und Rehabilitation, sagt der Innsbrucker Neurologe, Professor Franz Gerstenbrand, müßten sicher die Hälfte aller Apalliker nicht sein: „Deutschland ist in Sachen Hirnverletzungen ein Entwicklungsland.“
Nicht zuletzt deshalb haben sich im letzten Sommer Angehörige von Apallikern sowie Menschen, die ihre Krankheit überwunden haben, zum Selbsthilfeverband „Schädel-Hirn- Patienten in Not“ zusammengeschlossen. „Schädel-Hirnpatienten sind noch immer die am meisten benachteiligte Patientengruppe in Deutschland“, war beim zweiten Bundeskongreß des Verbandes am Freitag in München als einhelliger Vorwurf zu hören. Für die Frühförderung der Verletzten nach Verlassen der Intensivstationen stehen bundesweit höchstens 300 Betten mit Therapie zur Verfügung, klagt der Verbandsvorsitzende Armin Nentwig, der die Selbsthilfegruppe nach dem Tod seines Sohnes gründete.
„Zwar wird heute alles getan, um einen Verunglückten mit Rettungshubschrauber, Notarztwägen und Superintensivstationen dem Tod zu entreißen“, sagt Nentwig. Doch danach fällt der Patient in ein „totales Versorgungsloch“. Mindestens 3.000 Betten für die Frührehabilitation sind seiner Ansicht nach notwendig. Mit Krankengymnastik, Ergotherapie und anderen Rehabilitationsmaßnahmen muß unmittelbar nach der Operation begonnen werden, um die Heilungschancen zu erhöhen. In Bayern läuft mittlerweile ein Programm, das wenigstens eine Grundversorgung flächendeckend bis 1995 garantieren soll. Die anderen Bundesländer hinken laut Nentwig erheblich hinterher. Viel zu früh und zu schnell werden Patienten nach Ansicht des Selbsthilfeverbands zu Pflegefällen erklärt. Oft verlegt man Patienten auch in psychiatrische Pflegestationen. Ein Mann aus München schildert den Fall seiner Frau, die nach mehrjährigem Krankenhausaufenthalt gegen seinen Willen in ein Heim abgeschoben wurde und kurz darauf starb. „Todesursache war das Pflegeheim“, stellt der Witwer heute erbittert fest. Er will nun gegen die Krankenkasse klagen, die seiner Ansicht nach die Verlegung „in schöner Eintracht mit der Klinik“ aus Kostengründen betrieben hat.
Oft genug gesellt sich zu der enormen psychischen Belastung der Angehörigen von Apallikern auch noch finanzielle Not. Die Behandlungskosten können schnell in die Hunderttausende gehen. Nach den Klagen vieler Angehöriger stempeln die Krankenkassen Patienten voreilig zu Pflegefällen, um das Geld für die teure und aufwendige Rehabilitation einzusparen. Versicherungsgesellschaften versuchten nach Unfällen häufig, die noch unter Schock stehenden Familien der Opfer mit „lächerlichen Schadensersatzsummen pauschal abzuspeisen“. taz/dpa
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