: Am 3. Oktober war Schluß mit der Stasi-Aufarbeitung
■ Stefan Wolle, gefeuerter Historiker aus dem Stasi-Sonderarchiv, sieht spätestens seit der Rehabilitierung de Maizières die Glaubwürdigkeit der Behörde in Frage gestellt INTERVIEW
Die beiden Historiker Stefan Wolle und Armin Mitter, die die erste Dokumentation von Stasi-Material herausgegeben haben (unter dem Mielke-Titel „Wir lieben Euch doch alle“, Basisdruck 1990) haben Anfang vergangener Woche öffentlich erklärt, daß die Rehabilitierung des stellvertretenden CDU-Vorsitzenden de Maizière durch Innenminister Schäuble nicht den Ergebnissen der Akten- Funde in der Gauck-Behörde entspricht. Dr. Wolle wurde am Freitag fristlos entlassen, Dr. Mitter die Kündigung angedroht. Der dritte Historiker am Stasi-Archiv, Dr. Jochen Laufer, hatte bereits vor zwei Wochen aufgegeben.
taz: Herr Wolle, am vergangenen Freitag wurden Sie fristlos entlassen. Aus welcher Arbeit an den Stasi-Akten wurden Sie herausgerissen?
Dr. Stefan Wolle: Wir haben mit den 50er Jahren begonnen, also mit einer Zeit, die außerhalb der Sperrfrist des Bundesarchivgesetzes liegt...
Warum Sperrfrist?
Alle Akten unterliegen, das steht — aus guten Gründen — im Bundesarchivgesetz, einer 30jährigen Sperrfrist. Sie sind aus Gründen der Geheimhaltung und aus Gründen des Personenschutzes für die historische Forschung nicht zugänglich.
Also Schutz aller Stasi-Leute der letzten 30 Jahre...
Hier ist eine besondere Situation, die in gewisser Weise vergleichbar ist mit der Situation nach 1945, wo man eine derartige generelle Sperrfrist nicht akzeptieren sollte. Gründe einer Staatsraison für die Geheimhaltung fallen weg, weil es den Staat nicht mehr gibt, wichtig ist nach wie vor der Schutz der Persönlichkeitsrechte. Das ist für den Historiker ohne weiteres akzeptabel. In den drei Aufsätzen von uns, die Ende Januar in der Beilage zum 'Parlament‘ erschienen sind, haben wir selbst Namen abgekürzt, wenn die Aktenfunde nur zu ihren Gunsten sprechen, etwa wenn jemand am 17. Juni sich an Streiks beteiligt hat. Diese Aufsätze von Jochen Laufer, Armin Mitter und mir werten MfS-Material aus über die Wahlfälschung 1953, den 17.Juni und die Arbeiterproteste 1956 — wir wollten zeigen, was für wichtiges historisches Material im MfS-Archiv ruht. In dieser Menge und Präzision, etwa über die Stimmung in der Bevölkerung, findet sich das nirgendwo anders, auch nicht im zentralen Parteiarchiv der SED. Wir wollen auf diesem Weg weiterarbeiten, auch wenn wir gegenwärtig die Akten im MfS nicht mehr benutzen können.
Alle drei nicht mehr?
Auch Jochen Laufer nicht mehr. Der ist vor uns praktisch rausgeflogen, er hatte aus denselben Gründen dort nicht mehr arbeiten wollen und von sich aus eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung zum Anlaß genommen, den Vertrag nicht zu verlängern.
Aus welchen Gründen?
Seit dem 3. Oktober, seit der deutschen Vereinigung, wird die wissenschaftliche Arbeit, die historische Aufarbeitung, wie es immer so schön heißt, ganz systematisch und gezielt blockiert, und zwar total. Was unter Modrow noch erwünscht und unter de Maizière und Diestel bis zu einem gewissen Grad immerhin noch möglich war, ist jetzt unter der Regie von Schäuble gänzlich abgeblockt worden. Man hat uns zunächst hingehalten mit Versprechungen und gesagt, das braucht eine gewisse Zeit...
Der Zugang zu Akten war gesperrt?
Ja. Und dies, obwohl sich die historisch relevanten Akten sehr wohl von Personenakten trennen lassen.
Betraf das auch die Akten aus den 50er Jahren?
Ja. Ganz und gar. Wir haben nur noch mit dem Material arbeiten können, das wir vor dem 3. Oktober bereis kopiert und in unseren Schränken hatten. Wobei nicht einmal ganz klar war, ob wir das dürfen. Auch die drei Aufsätze beruhen ausschließlich auf Aktenmaterial, das vor dem 3. Oktober kopiert und uns zur Einsichtnahme vorgelegt wurde.
Was bewegt den Sonderbeauftragten Jochen Gauck?
Ich verstehe es nicht. Herr Gauck oder Herr Geiger, der Direktor der Behörde, der inzwischen weit wichtiger ist als Gauck, hätte uns zumindest ein bißchen herumwirtschaften lassen können in den 50er Jahren. Diestel hatte das so gemacht. In seiner Zeit konnten wir eine große Dokumentation über die Geschichte, die Struktur und die Arbeitsmethoden des MfS beginnen. Wir hatten viel Aktenmaterial zusammengetragen, Vorgeschichte und Gründung des MfS 1950, Verflechtung SED-MfS, mit der Justiz, der Polizei, dem Ministerium des Inneren, Kultur, Wissenschaft. Arbeitsmethoden im einzelnen wie Werbung von inoffiziellen Mitarbeitern, Observation. Aber am 3. Oktober war Schluß mit unserer Arbeit.
Gibt es das, daß Menschen als informelle Mitarbeiter bei der Staatssicherheit geführt werden, die selbst davon nichts wissen und auch ihren Decknamen nicht?
Nein, das würde nicht nur allen Gepflogenheiten, sondern auch allen Dienstvorschriften widersprechen. In einem wichtigen Fall so gut wie ausgeschlossen. Herr Geiger würde sagen, als Jurist, zu 99,9 Prozent.
Hat man Ihnen Hoffnung gemacht, daß das neue Gesetz, das derzeit in Bonn hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wird, mehr Arbeitsmöglichkeiten bringt?
Ja, da hat Gauck noch in meinem letzten Gespräch darauf hingewiesen und er hat das auch als Grund dafür angeführt, warum er jetzt nicht zurücktreten mag.
Sie hätten erwartet, daß er zurücktritt?
Ich habe ihm ganz deutlich gesagt, daß es an ihm gewesen wäre, das zu tun, was mein Kollege Armin Mitter und ich getan haben. Er hätte deutlich Stellung nehmen müssen gegen die Art und Weise, in der der öffentliche Bericht Schäubles die Ergebnisse der Arbeit in der Behörde über de Maizière interpretierte.
Sie sind schon einmal als Historiker rausgeflogen, in der alten Zeit ...
Ich bin 1972 relegiert worden von der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität. Es hat 18 Jahre gedauert, bis man mich formell und in aller Form rehabilitiert hat und mich um Entschuldigung gebeten hat. Vielleicht dauert es diesmal auch 18 Jahre...
Was ist aus dem Hochschullehrer geworden, der das damals zu verantworten hatte?
Das ging nicht nur von einer Person aus, zum Teil gibt es sie noch an der Universität. Jetzt werden sie aber wohl abgewickelt. Der Rektor der HU, Finck, hat unabhängige Historiker jetzt noch einmal zu einem Gespräch eingeladen. Der Skandal stinkt zum Himmel. Da sind Leute Professoren, die nicht nur der SED bis zum letzten Tag die Stiefel geleckt haben, sondern die auch ausdrücklich Schuld auf sich geladen haben, indem sie sich aktiv und ohne größeren Zwang an politischen Verfolgungen beteiligt haben. Das können wir nachweisen. Wir sind am 10. Januar 1990 damit an die Öffentlichkeit gegangen.
Und die lehren noch, 1991?
Nach wie vor. Das ist der Skandal. Interview: Klaus Wolschner
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