: Naivität oder Ignoranz
■ Der internationale Frauentag lebt von einem Mythos
Naivität oder Ignoranz Der internationale Frauentag lebt von einem Mythos
Welch ein Phänomen, dieser Frauentag. Vor achtzig Jahren von Clara Zetkin und ihren Mitstreiterinnen ins Leben gerufen, um Frauen für die Ziele der Arbeiterbewegung zu agitieren, hat er die Zeiten erstaunlich gut überlebt. Vielleicht weil er zu allem gut war: um gegen den Ersten Weltkrieg zu demonstrieren oder gegen den „Klassen“-Paragraphen 218. Die SED machte ihn in der DDR zu einer Art sozialistischem Muttertag — mit Blümchen von der Betriebsleitung und abends Tanz im Klubhaus. Die neue Frauenbewegung der sechziger und siebziger Jahre jedoch, immer auf Abgrenzung zu Genossen und Genossinnen jeglicher Couleur bedacht, hatte mit der ritualisierten Feierei zu Recht wenig im Sinn.
Am 19. März 1911, dem ersten Frauentag, gab es, so die historische Überlieferung, „machtvolle Demonstrationen“ im Berliner Arbeiterbezirk Wedding. Auch heute werden wieder Frauen im Wedding und anderenorts auf die Straße gehen: gegen das „internationale Patriarchat“ im allgemeinen und gegen Rüstungsfirmen im besonderen. Zur posthumen Verwunderung von Clara Zetkin, der großen Organisatorin: Gerade die ganz autonomen Frauen haben den 8. März zu ihrem neuen, antiimperialistischen Kampftag auserkoren.
Der Frauentag lebte für die Kommunistinnen vom Mythos der internationalen Arbeiterbewegung — davon waren die Frauen ein Teil, punktum. Der heutige Frauentag lebt vom Mythos einer internationalen Frauenbewegung, die so tut, als ob sie sich mühelos über die Grenzen hinweg auf gemeinsame Strategien gegen Ausbeutung und Unterdrückung verständigen könnte. Keine Frage: Überall auf der Welt gibt es Frauen, die angemaßte Männermacht durchschauen, die für ein würdiges Leben ohne Billiglohnarbeit und zermürbende Überlebenskämpfe streiten oder die Frauen lieben wollen, ohne verachtet und ausgegrenzt zu werden. Aber hier eine, gar weltweite, Einheitlichkeit unter dem Verdikt eines „gemeinsamen“ Tages zu beschwören, zeugt von Naivität oder Ignoranz. Die westlichen Frauen können sich nicht einfach mit den Frauen des Ostens und Südens „verschwestern“.
Es geht weder über feministische Besserwisserei, wo sich alter Missionarseifer austoben kann, noch über Versuche, sich mimetisch anzugleichen und alles gut zu finden, was Frauen der Dritten Welt sagen und tun. Da rumoren unaufgearbeitete Schuldgefühle; sie (ver)führen zu Heuchelei und Unaufrichtigkeit. Die Frauen des Westens haben teil an Reichtum und Macht und doch wieder nicht, denn es ist immer noch und überwiegend eine über Männer vermittelte Teilhabe. Wie wir als Frauen hier, bei unserer ganzen Unterschiedlichkeit, in den Ausbeutungssystemen funktionieren — können wir es erklären, haben wir es durchschaut? Wollen wir es durchschauen? Und doch wäre es die allererste Voraussetzung, wenn die Auseinandersetzung mit Frauen der Dritten Welt für alle einen Sinn machen soll. Helga Lukoschat
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