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■ Die DDR lebt: Nach den melancholischen Debatten um die DDR-Identität, die im Einheitsprozeß für immer verlorengingen, hat zumindest eine realsozialistische Errungenschaft im Wettkampf der Systeme überlebt: Ab Sommer schreiben Westschüler in Ostschräglage

Was bleibt von der ehemaligen DDR nach vollendeter deutsch-deutscher Vereinigung? Richtig: der kleine grüne Rechtsabbiegerpfeil an den Straßenampeln. Und was noch? Fehlanzeige, da fällt einem schon nichts mehr ein. Der Trabi? Längst ein auslaufendes Modell. Der Goldbroiler? Schon seit Wochen in Brathähndl umbenannt. Die sozialen Errungenschaften, wie das Grundrecht auf Arbeit oder der Hausfrauentag? Ersatzlos abgeschafft. Aber doch, eine Sache ist da noch, die über die Vereinigung in das neue große Deutschland hinübergerettet wird und fortan zum letzten Träger verlustig gegangener DDR-Identität werden könnte: ein kleiner handgeschriebener Strich ohne jegliche Schleifen und Schnörkel. Und dieser schnörkellose Strich wird künftig ganze Schülergenerationen prägen: Vom kommenden Schuljahr an wird er in Westberliner Schulen Einzug halten. Denn nach den Sommerferien wird auch im Westen der Stadt „ost“ geschrieben oder — wie es im besten Bürokratendeutsch so schön heißt — die „Schulausgangsschrift 1968 der DDR“ wird eingeführt. Im Klartext: Künftig werden sämtliche Abc-Schützen Berlins nunmehr die A und O und L nach DDR-Art in ihre Hefte krakeln, und diese DDR-Art zeichnet sich — für Laien kaum merklich — eben vor allem durch fehlende Schnörkel an einigen Buchstaben aus.

Beinahe verschämt hat noch der alte rot- grüne Berliner Schulsenat dieses kleine Stück DDR, ja die vielleicht letzte sozialistische Errungenschaft, in den Westen hinübergeschmuggelt. Versteckt in dem nüchternen Senatsrundschreiben III-116 hat die Schulverwaltung schon im November sämtlichen Grund-, Gesamt-, und Sonderschulen mitgeteilt, daß vom Sommer an auch die „Schulausgangsschrift der DDR“ zur verbindlichen Normschrift erhoben wird. Denn diese 1968 von DDR-Pädagogen erarbeitete Schrift, so erfahren wir aus dem Senatsschreiben, „hat sich in der ehemaligen DDR unter schreibdidaktischen Gesichtspunkten nach übereinstimmender Auffassung aller Beteiligten bewährt.“

Wie das? Wie konnte es passieren, daß ausnahmsweise etwas aus dem Osten besser ist als das westliche Pendant? Auch darüber klärt Rundschreiben III-116 geflissentlich auf: „Die Schulausgangsschrift 1968 weist eine gute Schräglage auf, lebt von einer straffen Bewegungsführung, ist bewegungsökonomisch aufgrund weniger breiter Bogen und kürzerer Deckstriche, die Buchstaben haben eine klare Binnenstruktur und bieten eine gute Grundlage für die Ausbildung individueller Handschriften.“ Wer hätte den verschmähten DDR-Pädagagogen so viel Hang zur Schräglage wie zur Förderung der Individualität zugetraut?

Die damals noch rot-grüne Westberliner Schulverwaltung allemal — und offenbar nicht nur diese. Auch Hamburg und Schleswig-Holstein, so stellt sich nun heraus, haben ihren Schulen empfohlen, die 1953 von der Kultusministerkonferenz zur Normschrift erhobenen lateinischen Buchstaben durch die klaren, unverschnörkelten Lettern des realen DDR-Sozialismus zu ersetzen. Doch der naheliegende Schluß, es handele sich dabei um eine klammheimliche postommunistische Indoktrination sozialdemokratisch oder rot- grün regierter Bundesländer, geht fehl: Zwar hat der neue Innensenator nach dem Regierungswechsel in Berlin als eine seiner ersten Amtshandlungen das feministische große „I“ aus der Amtssprache getilgt. Der neue Schulsenator hingegen, ein strammer CDU-Mann, hält an den Vorzügen der Ostschreibschrift fest. Da sage doch niemand, die Ossis würden überall und immer untergebuttert. Immerhin bleibt ihnen von ihrer Geschichte und Identität jetzt doch der kleine Schnörkel am großen L und am kleinen q, und wenn es auch nur der fehlende ist. Vera Gaserow

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