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DIE FUSS-SPUR IM SAND

■ Spekulationen über Robinson Crusoe

Spekulationen über Robinson Crusoe

VONHERMANNSCHLÖSSER

Es gibt Bücher, die man nicht gelesen haben muß, um sie zu kennen. Was in ihnen vorkommt, weiß man auch so: aus Nacherzählungen, Filmen, aus Anspielungen und geflügelten Worten. Odysseus kehrt nach dreißig Jahren Irrfahrt ins heimische Ithaka und zur liebenden Gattin Penelope zurück. Parsifal reitet, er sucht den Gral, den es vielleicht gibt, vielleicht auch nicht. Don Quijote, das ist der Ritter von La Mancha, der heldenhaften Taten zuliebe unterwegs ist, aber immer bloß auf Windmühlen trifft. Und Gulliver besucht die Zwerge und die Riesen, um zu erfahren, daß auf der Welt alles eine Frage der Relativität ist: Was in einer Umgebung groß erscheint, wirkt anderswo winzig. Mit solch relativistischer Skepsis möchte Faust sich wiederum nicht begnügen. Er will erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber dafür muß er auch seiner Studierstube den Rücken kehren und sich hinaus ins weite Land begeben.

Odysseus, Parsifal, Faust — es sind gar nicht so viele Figuren, in denen sich das europäische Verhältnis zur Welt jahrhundertelang symbolisierte. Und bei allen Unterschieden im Detail ist all diesen Gestalten eines gemeinsam: Neugier treibt sie über die engen Grenzen ihrer Herkunft hinaus. Sie wollen die Welt entdecken, freilich auch: erobern. Der aggressive Charakter ihrer Fahrten ist schwerlich zu leugnen, wiewohl ihre Abenteuer nicht durchweg sieg- und erfolgreich enden. Im Gegenteil: Schiffbrüche, Scheitern, Mißlingen, wohin man auch schaut. Aber selbst wenn sie all ihr Vermögen verlieren, ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, das eigene und das fremde Leben gefährden — all dies scheint ihnen immer noch lieber zu sein als eine behütete Existenz im engen Familienkreis. So könnte man die Botschaft aller großen Reisenden der europäischen Literatur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen.

Das Merkwürdige ist nun aber: Nirgendwo wurde diese Botschaft begeisterter gelesen und weitererzählt als eben dort, im Kreise wohlbehüteter bürgerlicher Familien. Ganz ohne Verharmlosungen ging es dabei allerdings nicht ab. Nicht von ungefähr existiert von fast all den genannten Büchern auch eine Version für Kinder.

Zwei Schuhe, die nicht zueinander passen

Robinson Crusoe. Natürlich trifft all das Gesagte auch auf ihn zu. Seine Geschichte kennt jedes Kind: Abenteuerlust trieb ihn aus seiner englischen Heimat York hinaus in die Welt, zuerst nach Afrika, wo er von Piraten gefangen wurde, dann nach Brasilien, wo er es bis zum Plantagenbesitzer brachte. Aber das geruhsame Pflanzerleben behagte ihm nicht, also stieg er in den Sklavenhandel ein, mietete ein Schiff, um nach Afrika zu reisen. Am 30. September 1959 überlebte er als einziger den Untergang dieses Schiffes. Danach wanderte er auf seiner einsamen Insel umher, schaute aufs Meer hinaus, arbeitete, wartete, arbeitete und kehrte schließlich wieder nach England zurück, nachdem eine halbe Ewigkeit vergangen war.

Der Ausdruck „halbe Ewigkeit“ ist allerdings nicht im Sinne des Gestrandeten. Er — oder doch sein Erfinder Daniel Defoe — pflegte sich präzise auszudrücken. „Drei Hüte, eine Mütze und zwei Schuhe, die nicht zueinander paßten“, registrierte er, als er die Hinterlassenschaft seiner ertrunkenen Kameraden musterte. Pietät ist ihm zwar ebensowenig fremd wie Mitleid, schließlich ist er Christ. Aber diese edleren Empfindungen hindern ihn nie daran festzuhalten, was ist. Zwei Schuhe, die nicht zueinander passen, sind wertlos. Das muß gesagt sein, weil es wahr ist. Von all den Abenteurern des Geistes und der Weltmeere ist Robinson gewiß der nüchternste.

Natürlich ist ihm trotz aller Nüchternheit die Zeit auf der Insel manchmal quälend lang gewesen. Er hatte gegen Angstzustände anzukämpfen, war auch einmal todkrank. Aber dies verging, und bald hatte er alles wieder „im Griff“, auch die vergehende Zeit. Zu Robinsons ersten Maßnahmen nach dem Schiffbruch zählte die Installation eines Kalenders. Tag für Tag ein Schnitt mit dem Messer in ein Balkenkreuz. So konnte er am Ende seines Inseldaseins eine Bilanz vorlegen, die eine einzige Lücke von drei Tagen hatte, an denen er kranklag. Stolz zeigte er den Seeleuten, die ihn befreiten, seine Strichliste: 28 Jahre, zwei Monate und 14 Tage lang hatte er es auf der Insel ausgehalten, „all alone in an un-inhabited Island“, wie es der umständlich lange Titel der Originalausgabe des Buches aus dem Jahre 1719 mitteilt.

With infinite labour

Was fängt ein Mensch so lange mit sich allein an? Robinsons Rezept ist gut bekannt und wurde seither als probate Lebensregel weitergereicht: Arbeiten von morgens bis abends. Dann kommt man nicht auf dumme Gedanken. Wochenlang gab sich Robinson mit der Herstellung eines Brettes ab, weil er nur wenige und ungeeignete Werkzeuge dafür besaß. Aber er gab nicht auf, bis das Brett fertig war. Daß diese zähe Ausdauer manchmal auch wahnhafte Züge annahm, entging ihm nicht. Mit unendlicher Mühe meißelte er ein Kanu aus einem Baumstamm. Als er endlich doch damit zurande gekommen war, konnte er es nicht ins Wasser bringen. Es war zu schwer, das hätte er vorher merken sollen. Aber durch solche Enttäuschungen lernte er, sorgfältiger zu planen und seine Kräfte realistisch einzuschätzen.

Diese beiden Episoden sind keine Einzelfälle. Das ganze Buch handelt vom Tätigsein. Gewiß wirkt dabei die puritanische Ethik, der der Autor des Robinson, Daniel Defoe, lebenslang verpflichtet war. Bevor er Romane schrieb, arbeitete Defoe als wenig erfolgreicher Kaufmann, aber auch als sehr erfolgreicher Journalist. Reiseführer, Benimmbücher, historische Chroniken und politisch- religiöse Traktate schrieb er in großer Zahl. Als er schließlich den Robinson veröffentlichte, war er schon sechzig Jahre alt, und den Erfolg, den er mit diesem Buch sofort erlebte, mochte er als wohlverdiente Frucht lebenslanger Bemühung aufgefaßt haben. Freilich legte er in rechtschaffen puritanischer Art Wert auf die Feststellung, daß er sich die Geschichte vom Robinson nicht ausgedacht habe, sondern daß sie wirklich so und nicht anders passiert sei.

Dies aber stimmt wohl nicht. Zwar kannte und benutzte Defoe die Berichte des schottischen Matrosen Alexander Selkirk, der ebenfalls auf einer einsamen Insel gelebt hatte. Aber die Unterschiede zwischen ihm und Robinson Crusoe sind gewaltig: Selkirk blieb nur vier Jahre auf seiner Insel, kam aber doch als physisch und vor allem psychisch zerrütteter Mann nach Hause zurück. Robinson dagegen ist nach wesentlich längerer Isolation gesünder denn je: Er steigt sofort wieder ins Geschäftsleben ein — Freunde hatten sein Kapital all die Jahre treu verwahrt —, er heiratet und lebt gottesfürchtig bis zu seiner nächsten Reise, die Defoe mit nicht ganz demselben Erfolg in einem zweiten Band erzählt. Dies soll dem Leser natürlich eine Lehre sein: die harte, entbehrungsreiche Zeit in Einsamkeit und Armut war eine schwere, aber gerade deshalb nützliche Schule fürs späte Leben.

Pädagogische Würze der Tugend

Diesem Lob der rüstigen Arbeit verdankt sich im wesentlichen die Sympathie, die die Pädagogen seit jeher dem Robinson Crusoe entgegenbringen. 1779 erschien in Hamburg Robinson der Jüngere, verfaßt vom Aufklärungspädagogen Joachim Heinrich Campe. Hier erzählt ein sorgender Hausvater seinen zahlreichen Kindern die Geschichte vom armen Schiffbrüchigen und versieht sie mit lehrhaften Kommentaren, in denen die „nützliche Geschäftigkeit“ eine zentrale Rolle spielt.

Dabei macht die Arbeitsethik alleine ja noch nicht die ganze Geschichte vom Robinson aus. Hätte er immer nur gearbeitet und gebetet, wäre er aus seiner Heimatstadt York nie hinausgekommen. Er hätte dort die väterliche Firma übernommen und wäre als derselbe solide Mittelständler gestorben, als der er auch geboren ist. Campe hätte dies übrigens gutgeheißen. Dem wilden Fernweh des jungen Crusoe erteilt er einen schweren Verweis. Ein wenig heuchlerisch ist dieser Verweis allerdings: denn auch Campes Buch profitiert ja von der Reiselust seines Helden. Daheim hätte er nicht die Abenteuer erlebt, die auch der aufgeklärte Erzieher seinen Zöglingen zur Würze der Tugend beigibt.

Sein privates Königreich

Abenteuerlust: das ist es, was den Robinson Crusoe vom bloßen Traktat über die Segnungen des Fleißes unterscheidet. Der „Held“ des Romans — und diese Bezeichnung ist durchaus angebracht — überschreitet die Grenzen des Bravbürgerlichen durch seine Fahrten. Unproblematisch ist eine solche Grenzüberschreitung nicht. Allzu deutlich sind dem Roman auch die Gesetze des europäischen Imperialismus eingeschrieben. Crusoes Bericht ist auch eine Geschichte der Kolonisation en miniature: Den Naturzustand einer unbewohnten Insel räumt der tüchtige Engländer um in ein Gemeinwesen mit allem europäischem Komfort. Und dies nahezu aus eigener Kraft. Zwar konnte er manches Nützliche aus dem Wrack seines Schiffes bergen. Ganz nackt steht er nicht da. Nackt wird er überhaupt nie gezeigt, das unterscheidet ihn am deutlichsten vom „Wilden“. Als seine Kleider unbrauchbar zu werden beginnen, schneidert er sich sofort neue. Seinen zivilisatorischen Standard gibt er nicht preis. Er hat Werkzeuge, Schießpulver, Waffen. Auch Schreibpapier, Tinte und eine Bibel zur erbaulichen Lektüre sind ihm verblieben. Und doch baut er mit diesen Mitteln etwas völlig Eigenes: „with infinite labour“, wie eine seiner Lieblingswendungen heißt, gründet er sich sein privates Königreich. Er zähmt sich die Tiere, er macht aus Wildwuchs geordnetes Ackerland.

Und schließlich, als Schluß der Geschichte, bändigt er sich auch noch einen menschlichen Untertan: „Man Friday“, den Eingeborenen, den er aus den Fängen der Kannibalen befreit. Dieser „edle Wilde“ lernt nun von seinem neuen Meister alles, was zum europäischen Individuum gehört: erst Englisch, dann Schießen, dann den Glauben an Gott den Allmächtigen. Dankbar nimmt Freitag alles an, bleibt seinem Herrn lebenslang ein treuer Diener und wird von ihm dafür gut behandelt.

Statthalter Seiner Mäjestät

Wäre also der Robinson Crusoe wirklich nur ein arbeitsethisches Lehrbuch und ein kolonialistisches Pamphlet? Dann müßte man ihn eigentlich schnellstmöglich vergessen. Er ist aber mehr: Wie Parsifal oder Odysseus, wie Faust oder Don Quijote symbolisiert auch Robinson das Wissen, daß es irgendwo in der Welt ein „Draußen“ gibt, dem das „Drinnen“ der heimischen Welt ausgeliefert ist. Diese faszinierende, aber auch bedrohliche Dimension des Reisens verschweigt die Geschichte von Robinson nicht: Seine Angstzustände und Krankheiten, seine flüchtigen Melancholien deuten darauf hin. Freilich werden sie immer rasch durch Arbeit und Gebet überwunden.

In einer Szene aber hat Defoe die Konfrontation mit dem radikal Fremden unübersehbar fixiert: Crusoe wandert durch sein Reich, ganz Statthalter Seiner englischen Majestät. Da stößt er plötzlich auf eine Fußspur im Sand. Eigentlich müßte ihn dieses Zeichen einer menschlichen Anwesenheit ja freuen. Er aber erschrickt wie nie zuvor. In panischer Angst läuft er davon, aber die Erinnerung an die Spur läßt ihn nicht los. Da weiß er, daß all seine tüchtigen Vorrichtungen nachhaltig bedroht sind. Allerdings vergißt er dies bald wieder, und auch im bürgerlichen Familienkreis geht man über diese Stelle meist schnell hinweg.

PS: Über die Lebensplanungen des Robinson Crusoe findet sich ein ausführliches Kapitel in dem Buch: „Morgen wird alles anders · Die Kunst, das Leben zu meistern“ von Ernst Gehmacher und Hermann Schlösser. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1990

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