Leidenschaft Altberliner Müllkippe

■ Von Ursprüngen der Hausmüllverwertung/ Die schönsten Entdeckungen werden gemacht, wenn man nicht sucht

Erst gegen Ende des 19.Jahrhunderts wurde in einer Großstadt wie Berlin der Müll (damals das Müll) zu einem öffentlichen Problem. Die älteste, billigste und einfachste Art der Verwertung des Hausmülls in der Landwirtschaft rentierte sich nicht mehr. Die Fahrstrecken wurden für die Bauern zu lang. Es entstand das Gewerbe der Abfuhrunternehmer. Von zentralen Stapelplätzen aus wurde der reichshauptstädtische Abfall auf offenen Bauwaggons oder per Schiff auf Schuttplätze gebracht, die in einem Ring um Berlin herum entstanden.

Von Ulrike Hohmuth

Ich stehe auf einer solchen Altberliner Müllkippe in einem Feuchtgebiet. Auf einem hölzernen Lichtmast brütet ein Storch im nahegelegenen Dorf. Die zugehörige Bahnhofsstation wurde stillgelegt. Die Gleise sind verschwunden. Die Aufschüttung des Bahndamms in 100 Meter Entfernung ist noch erkennbar. Scherben glänzen auf frisch gepflügten Ackerflächen in der Sonne. (Auf dem Gebiet darf nicht mehr gepflügt werden. d.R.) Ein Angler fährt mit dem Rad vorbei. Im Kescher blinken Fische. Frösche quaken. Das Ufer des Sees gleicht einem Geröllstreifen. Kannen, Töpfe und Gläser werden durch das Wasser immer wieder freigespült. Ich treffe auf Z. Vorsichtig buddelt er ein Loch in das abschüssige Seeufer. Er zeigt mir eine Vase mit spiralig ausgelegtem Glasfaden. Jedes Wochenende erreicht er tiefere Schichten. Es ist „seine“ Stelle. Von hier aus behält er den kleinen Sohn im Auge, der schmutzverschmiert über die Wiesen streunt.

L. kommt uns entgegen. Er trägt eine Plackhacke geschultert, an der eine gelbe Kiepe schaukelt. Die läßt er herab, und wir blicken hinein. Aha, im Matsch hier findet man auch volle Biere! Ein Berliner Pils steht neben alten handgezogenen Flaschen. Am Feldrand bewegt sich langsam R.s Gestalt. Sucht er oder beobachtet er die Landschaft mit dem Gespür für verborgene Schätze? Die Sammelwut verfolgt ihn bis in den Traum. Er bringt die erregendste Beute zum Treffpunkt: Jugendstilvasen, Zwiebelmustergeschirr. Seine Freundin läuft mit schnellen, kurzen Schritten die Furchen entlang, als würde sie einkaufen gehen. Flink läßt sie den Kram, der sich auf Trödelmärkten verscherbeln läßt, in den Tragetaschen aus Plastik verschwinden.

Die schönsten Entdeckungen macht man dann, wenn man nicht sucht, sagt S. Er sucht Bilder mit der Kamera. Seinem schnellen Schritt kann ich nicht folgen. Ich bücke mich nach irdenen Gefäßen oder weißem Porzellan. Sektflaschen und Austernschalen liegen umher. Batterien lösen sich auf, und Metallteile verrotten. Die Stoppeln am Feldrand zeigen, daß auf diesen Flächen Getreide, wahrscheinlich Futtergetreide, angebaut wird. Ich ziehe an dem herausragenden Ende einer Weißbierflasche und verfolge gespannt, ob sie heil ist, oder ob ich sie wieder fallen lassen werde wie vieles zuvor.

Wie im Taumel lasse ich weiter und weiter locken. Noch bevor ich bei einem Fundstück verweile, es in die Hand nehme und betrachte, fällt mir etwas Neues ins Auge: Ein Sahnekännchen, ein verschnörkelter Schildplattkamm, eine blauweiß lasierte Murmel, eine Zahnbürste aus Horn, deren Borsten längst zersetzt sind, ein Specksteinäffchen. Meine Augen tasten die gegenständlichen Strukturen auf krümeliger Erde ab. Im Kopf habe ich die Bruchstücke längst ergänzt: Vogeltränke, Salbennäpfchen, Kuchenform. Das gewölbte Innere der Weinflaschenböden narrt mich immer wieder als Glaskugelbriefbeschwerer-Attrappe.

Auf dem erdigen Grund mit den tönernen Überbleibseln, dem angeätzten Glas, dem staubigen äschernen Weiß, setzen die sparsam verteilten bunten Stücke Signale. Beim Betrachten einer Scherbe mit himmelblauen leuchtenden, in Porzellan geprägten Vergißmeinnichtblüten, empfinde ich das Anrührende des Kitsches, das mich im Supermarkt nicht erreicht. Ein Stöckchen, mit dem ich die Erde aus den Gefäßen kratze, wird vorübergehend zum Werkzeug. Der Rucksack, selbst ein ehemaliger Kippenfund, drückt schwer auf die Schulter. Es wird Zeit, zum Treffpunkt zurückzukehren. Die Augen wieder vom Boden zu lösen, fällt mir schwer.

Holunder und Brennesseln wachsen kräftig auf dem morastigen Boden des Umlandes. Kletten klammern sich an die Jackenschösse. Im dichten Gesträuch stoße ich auf einzele Wasserlöcher, in denen Flaschen und Glühbirnen schwimmen. Hier und da stehen geschmückte Bäume. Zerbeulte Eimer, bauchige Tonkrüge mit ausgeschlagenem Boden und bunte durchgerostete Blechkannen wurden auf die Zweige gespießt. In durchwühlten Erdlöchern liegen verlockende Fundstücke mit der heilen Seite nach oben, um andere Sammler zu foppen. Am Treffpunkt lagern die Trivialarchäologen — wie sie sich selbst im Scherz nennen — hinter den Autos und lassen sich die Abendsonne ins Gesicht scheinen. Der kleine Junge ist eingeschlafen. Um die Mittagszeit hatte Z. vergeblich versucht, ihn zur Ruhe zu bringen. Die Sammler bewundern gegenseitig die prächtigsten Funde und fachsimpeln: „Es ist unvorstellbar, daß wir immer wieder etwas finden. Das Gelumpe wächst nach — wie Pilze!“ „Nun übertreib nicht. Denk daran, was wir vor fünf Jahren hier weggeschleppt haben. Damals lagen noch große Stücke herum. Riesige Kruken — und heil!“ „Stimmt. Die guten Sachen findest du heute nur noch beim Graben.“ „Als der Entwässerunsgraben angelegt wurde, da hätten wir dabei sein sollen.“ „Wir könnten ja der Gemeinde einreden, daß der Graben verlegt werden müßte.“ „Jedes Jahr um einen Meter!“ „Was sich auch lohnen würde — das wäre — die Tümpel auszupumpen. Was da im Schlamm begraben liegen muß. Und alles im besten Zustand. Mit dem Wasserstrahl könnten wir die Schätze freilegen — wie bei einer Goldwaschanlage.“

R. trank schweigsam vom Kaffee aus der Thermoskanne und macht sich zu der letzten Runde auf. Beim Abschiednehmen sagt er: „Es ist eigenartig, aber der gewöhnliche Alltag wurde konserviert von den Schattenseiten des Daseins: In Müllgruben, Latrinen und Gräbern stoßen wir auf seine Spuren. Gegen Pracht und Reichtum in Schlössern und Villen hatte die Alltagskultur keine Chance zu überleben. Auch in der Literatur wurden alltägliche Verrichtungen schlicht übergangen, alltägliche Gegenstände nicht beschrieben.“

Erst zu Hause, als ich die Fundstücke am späten Abend ins Spülbecken gleiten lasse, sehe ich, wie schmutzig sie wirklich sind. Das Abwaschwasser wirft den kleinen Lichtkegel der Lampe an die hellen Wandkacheln. Dort schaukeln kleine Wellen. In der Dunkelheit steht der Schatten der Vergangenheit. Das feine Wurzelgespinst im Lilienmilchfläschchen fällt in sich zusammen und sammelt sich mit der von Asche rot gefärbten Erde auf dem Grund des Beckens. Da ist das Türschild aus Porzellan mit dem Namen Riebow. Ein Schild ohne Tür. Einem Puppenkopf mit einer Manschette um den Hals putze ich die blinden Augen. Aus einem Pomadetopf löse ich mit der Stricknadel eine zähe Masse. Wie eine aufgedunsene Nachtschnecke klebt sie im Ausguß. In einem anderen Tiegel leuchtet es phosphorgrün unter der Erdkruste. Beim Schrubben stelle ich fest, das KPM-Tellerchen mit den Rosenblüten ist wirklich gut erhalten, der Zwiebelmusterquirl ist nicht abgeplatzt. Dann liegen das Pfeffer- und Salznäpfchen, der Eierlöffel und alle anderen Raritäten im heißen Essigwasser, um hartnäckigsten Schmutz zu lösen. Ich putze sie blank und stelle den nostalgischen Trödel auf: Das Milchwunder, die Weißbier- und Steinhägerflaschen, eine Reihe Porzellansalbennäpfchen, eine Reihe Tonsalbennäpfchen, eine Reihe Deckel, passende oder unpassende, eine Reihe Gardinentroddeln, mit oder ohne Goldrand, alle ein wenig verschieden voneinander, zwei Reihen Tintenfässer, irdene, porzellanene, gläserne, handgezogene oder gepreßte. Die Seifenschale kann ich gut gebrauchen. Die Muschel bringe ich ins Badezimmer, das Puppengeschirr ins Kinderzimmer. Die Vogeltränke und die Meerschaumpfeife ins Geschenkfach. Und der andere Müll? Sollte ich etwa eine Tintenfaßsammlung anlegen?