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Unverschämt real

■ „Lebenserfahrungen“, So., ZDF, 22 Uhr

Wenn der einzige festangestellte Dokumentarfilmer des ZDF, Hans-Dieter Grabe, Menschen, meist solche, die die Siegergeschichte als Verlierer rekrutiert, in Szene setzt, wird der Verkommenheitslevel der Informationsbranche deutlich. Wie Grabe die Ränder des Spektakulären aufsucht, wie er verfolgt, wo sie sich in den rasenden Sensationen des Alltäglichen wieder zu verlieren drohen, das macht die Differenz zur gängigen Berichterstattung deutlich, zum Nachrichtenzirkus, der im Gewand der informativen Reportage daherkommt.

Wir TV-GuckerInnen sind an den üblichen Hintergrundschrott bereits so gut adaptiert, daß wir uns allen Ernstes „kritisch“ an einer Kriegsberichterstattungszensur-Diskussion beteiligen, als wären nicht die Lojewskis, Schreibers, Leclerqs, all diese Frontbildkrieger, selber schon die leibhaftige Zensur. Und wir halten kaum noch die Langsamkeit aus, die ruhig zurückhaltende Stimme, die stillen, langen Bilder, mit denen Grabe und sein Team (Schnitt: Effi Kreiter; Kamera: Horst Bendel) uns an den vietnamesischen Kriegskrüppel Do Sanh erinnern.

Fast hatten wir ihn schon vergessen. 1970 zeigte uns Grabe zum ersten Mal dieses bombenverstümmelte neunjährige Waisenkind in seinem Dokumentarfilm Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang. Vier Jahre später filmt er den Jungen, der wider Erwarten nicht gestorben ist, in einer westdeutschen Rehabilitationsklinik und dann zurück in Vietnam. 1990 ist Do Sanh 29 Jahre alt; Grabe besucht ihn in Ho Chi Min- Stadt und erfährt (in deutsch!), daß man mit einem verkrüppelten Bein sehr wohl als Rikschafahrer arbeiten und mit weggeschossenem Unterleib auch Vater werden kann. Den nie vergehenden Schmerz aber hat Do Sanh sich als Tätowierung in seinen Oberkörper eingravieren lassen: „Mein Leben ist kein Glück.“

Grabe hängt buchstäblich an seinen Personen. Er hat die Unverschämtheit, einen einzigen Menschen über 20 Jahre hinweg für sprechwürdig zu halten, wo man doch mit Sammelspots fünf Millionen Kurden oder 20.000 Albaner in unserer kostbaren Sendezeit sehr viel elendseffektiver wegschaffen könnte. Er produziert Wahrheit als Bremskraft, die den Selbstlauf der Bilder zum Anhalten zwingt. Peter Blie

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