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Albanisches Recht: Fünf Jahre wegen Bach

■ „Ehemalige“ berichten über das Leben in den Strafanstalten/ Nach der Entlassung ohne Arbeit

Ein Einwohner nickt verstohlen zu einem langgestreckten, weißen Gebäude hinter rostigem Stacheldraht hin und sagt leise: „Wir glauben, daß noch etwa 50 bis 60 politische Gefangene drin sind.“ Vor Jahren, so berichtet ein „Ehemaliger“, waren in Albaniens meistgefürchtetem Zuchthaus an die 700 Häftlinge in weniger als drei Dutzend halb unter der Erde gelegenen Gemeinschaftszellen inhaftiert. Tausende Dissidenten sollen durch das Tor hineingegangen, Hunderte sollen nie wieder herausgekommen sein — sie starben an Hunger oder wurden zu Tode gefoltert.

Offizielle Informationen über das Zuchthaus von Burrel gibt es praktisch nicht. Bis der jetzige Staatschef Ramiz Alia im Dezember eine Liberalisierung einleitete, war es ausländischen Journalisten unmöglich, die kleine Stadt 60 Kilometer nördlich von Tirana zu besuchen. Auch heute noch wird jeder, der sich zu nahe an die Haftanstalt heranwagt, von der Polizei weggeschafft.

Obwohl politische Häftlinge jetzt freikommen, ist Burrel weiter von einer Atmosphäre der Angst umgeben. Ehemalige Häftlinge wagen es jetzt, von ihrem Schicksal zu sprechen und von den Tragödien, die sie erlebten. Auf ein Vierteljahrhundert Haft in der berüchtigten Kamara 6, der für Intellektuelle reservierten Gemeinschaftszelle, blickt ein 68jähriger zurück. Allein während seines ersten Haftwinters 1946 seien über 300 Menschen gestorben, sagt er. Das war zu der Zeit, als Enver Hodscha nach dem Partisanenkrieg die Volksrepublik Albanien proklamiert hatte.

Das Zuchthaus, sagt der 68jährige, sei zu seiner Zeit total überfüllt gewesen. Nach seiner Zählung hatte die Anstalt 26 Zellen, zehn große und 16 kleinere, in denen insgesamt bis zu 700 Menschen zusammengepfercht waren. Es gab wenig zu essen, die Behandlung war brutal, es gab nur wenige Toiletten und Waschgelegenheiten.

Typische Geschichten, nichts Besonderes

Heute lebt der „Ehemalige“, der seinen Namen nicht genannt wissen will, in einer spartanisch eingerichteten Wohnung in Skutari, einer traditionellen Hochburg des Katholizismus mit stark antikommunistischer Grundtendenz. Er ist seit 20 Jahren frei, hat aber niemals einen Arbeitsplatz in der staatlich gelenkten Wirtschaft bekommen. Er brachte sich, seine Frau und seine beiden Kinder mit Gelegenheitsarbeiten bei der Verwandtschaft durch. „Das waren die einzigen, die mir geholfen haben“, berichtet er. Sein Sohn durfte nicht auf die höhere Schule. „Eine typische Geschichte, nichts Außergewöhnliches“, sagt er. „Ich hoffe, daß sich Albanien jetzt ändert, aber ich traue den Kommunisten nicht.“

Der Einwohner, der den Besucher in Burrel zum Zuchthaus geführt hat, berichtete, daß Hunderte von Insassen wegverlegt worden seien, bevor der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Javier Perez de Cuellar, Albanien im Mai 1990 besuchte. Damals gaben die Behörden an, in ganz Albanien gebe es 83 politische Gefangene. Menschenrechtler im Westen sprachen von mindestens einigen hundert, wenn nicht über tausend.

Noch rund 340 „echte“ politische Häftlinge

Arben Puto, Leiter des neuerdings zugelassenen Forums für die Verteidigung der Menschenrechte, berichtet, daß im vergangenen Jahr etwa 400 politische Häftlinge aus den zwölf Strafanstalten Albaniens — elf Gefängnissen oder Zuchthäusern und einer Besserungsanstalt für Jugendliche — entlassen worden seien. „Es scheinen noch etwa 340 echte politische Gefangene in Haft zu sein, und weitere 122 sind wegen schwererer Delikte drin, wie Terrorismus und Spionage“, berichtete Puto.

Den jetzt 65jährigen Opernsänger Luk Kacaj, der einst mit besten Noten das Moskauer Konservatorium absolvierte, brachte die Musik ins Gefängnis. Er hatte sich während der „Kulturrevolution“, die in Albanien nach dem großen chinesischen Vorbild inszeniert wurde, öffentlich vor Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach gestellt. Fünf Jahre im Zuchthaus Ballsh bei Fieri in Südalbanien waren die Quittung. „Ich bin für die Klassiker ins Zuchthaus gegangen“, sagt er. „Ich weigerte mich zuzugeben, daß Bach und Händel Revisionisten seien, und so haben sie mich wegen Agitation und Propaganda verhaftet.“ Seine Baßstimme zittert, als er, in einem schmuddligen Café in Tirana über eine Tasse wässrigen Kakaos gebeugt, über seine Erlebnisse mit der Geheimpolizei und in der Haft berichtet. „Sie haben mich in dem Zuchthaus nicht antasten können, schließlich war ich eine bekannte Persönlichkeit“, sagt er. „Aber viele Gefangene sind gefoltert worden und an der Folter gestorben.“

Nach seiner Entlassung aus der Haft war er zwei Jahre ohne Arbeit. Dann durfte er in einem Lagerhaus in Tirana Lastwagen entladen. Jetzt bezieht er die gesetzliche Mindestrente — 350 Lek im Monat, etwa 50 Mark. Kacaj und der „Ehemalige“ von Burrel berichteten, sie hätten bei ihren summarischen Prozessen keinerlei Gelegenheit bekommen, sich zu verteidigen. Beide sagten auch, die Strafen vieler Gefangener seien automatisch um Jahre verlängert worden.

An dieser Lage hat sich offenbar immer noch nichts Grundsätzliches geändert, trotz aller Beteuerungen des Regimes. So hat jetzt eine Delegation der internationalen Helsinki- Föderation für Menschenrechte die Zustände in Albaniens Gefängnissen als nach wie vor „unmenschlich“ bezeichnet. Tony Smith (ap)

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