: Schluss, Schloss, Schlüssel
■ Sieben Tage Kunst in der Lübecker Straße 21: »c'est la lü!«
Schluß gemacht werden sollte mit dem Eckhaus in der Lübecker Straße 21 in Moabit schon vor zwei Jahren. Die Stadt kaufte die Häuser der Straße, um nach deren Abriß eine Autobahntrasse durch Moabit zu schlagen. Doch die Änderung der Stadtplanung läßt den Bezirk nun nach mehreren Jahren Leerstand über Erhalt und neue Nutzung nachdenken.
Die Künstlerin Linda Scheckel, die ein Atelier in der Lübecker 21 hatte, initiierte erstmals im Dezember 1989 eine Spurensuche: für 10 Tage betrieb eine Künstlergruppe dort eine Archäologie des Wohnens, um den Räumen ihre möglichen Geschichten zu entlocken. Abblätternde Wände wurden zu Fundhorizonten. Halbzerfetzte Schichten von Tapeten gaben Auskunft über den Wohnzimmermief aufeinanderfolgender Generationen. Das Zentrum der Energieversorgung — die Küche — wurde mit Kohlen, Kartoffeln und Eiern zu einem Ort des Überlebens erklärt.
In dem noch immer leeren Haus regten Linda Scheckel und die Klanginstallateure Ex Tempore, die auch schon 1989 die Resonanzen der Räume getestet hatten, ein zweites Ausstellungsprojekt mit sieben weiteren Künstlern an. Provisorische Treppenstützen bezeugen jetzt den Kampf mit der Bauaufsicht um den Zugang zu dem bröckelnden, knackenden Haus. Entlang der Treppe belegt ein Briefwechsel die bürokratischen Hürden, die für sieben Tage Kunst und 12.000 DM Förderung genommen werden mußten. Erst mit Unterstützung des Beirates für dezentrale Kulturarbeit gelang es, dem Bezirk wieder die Schlüssel für das große, fast eingerostete Schloß des Eingangstores zu entlocken.
Schlüssel jeder Größe, rostig und blank, mit langem Bart und Sicherheitsprofil baumeln in Gisela Weimanns Raum »Verschlüsselte Botschaft« an langen Nägeln über dem knirschenden Sandboden. Das schwankende Licht einer Glühbirne versetzt ihre Schatten in Bewegung. Wie Noten verteilen sie sich über weiße Wand und roten Backstein. Einsam markieren die großen Schlüssel langgezogene Töne, während sich die kleinen in dichten Schwärmen zu schnellen Läufen gruppieren. Sie werden zum Schlüssel ungezählter Geschichten: vom Nachhausekommen und vom Weggehen, von der Angst, den Schlüssel zu verlieren und von den geheimnisvollen Funden der Schlüssel ohne Schloß, von Schlüsselkindern, von der Angst um Besitz und vom findigen Dieb, vom Zugang zu Räumen und dem Ausgeschlossensein, von der Bewegungsfreiheit mit dem eigenen Schlüssel und dem Eingeschlossensein.
Ein Stockwerk tiefer pendeln im Eckzimmer mit dem Grundriß eines Tortenstücks metallne Lote an roten Schnüren knapp über dem Erdboden. Im Zentrum der sieben auseinanderstrebenden Achsen, die die Linien der Lote hintereinander markieren, steht der Betrachter an der Zimmertür. Jürgen Reicherts »Geordnetes Tortenstück« ist eine Skulptur schwebender Schwere. Raumhöhe wird vermessen als potentielle Fallhöhe. Nebenan zerschneidet der Bildhauer Reinhard Haverkamp den Raum in dreieckige Flächen: blaue und gelbe Seile laufen, von einem Motor in Bewegung gesetzt, durch die Raumdiagonalen und verschieben sich wie Vektoren. Den ganzen Raum nutzt auch Linda Scheckel als begehbare Skulptur.
Als flüchtigen Besucher hat Jerry Wingren einen Engel in dem Haus landen lassen. Sand bewahrt die Schleifspuren seiner Flügel. Hinein in den verdunkelten Raum sieht man durch ein kleines Fensterchen; der kindliche Versuch, durchs Schlüsselloch das am Weihnachtsbaum tätige Christkind zu überraschen, scheint Urbild dieser Installation gewesen zu sein. Tatsächlich ist das wunderbare Wesen, wie eh und je, schon wieder abgeflogen.
Mit der Konkurrenz von Kunst und Design und der Furcht des Malers, im Getöse der Farben und Formen zwischen großblumigen Kissenstoffen und ornamentalen Tapeten den Sinn des Malens zu verlieren, spielt Aiga Müller in ihren Räumen. Eine grüne Übermalung mit schwarzweißen Tupfen verwandelt das armselige Mobiliar von zwei Gartenstühlen, Holztisch und Bügeleisen in ein Interieur la Matisse. Umgekehrt signalisieren die in Bilderrahmen gefaßten Kissenbezüge, die zerbrochene Teller überwuchern, die Verdrängung der Kunst durch das Dekor. Die heimeligen Sehnsüchte, die sich in Tapetenmustern, Zimmerschmuck und Kunstblumen niederschlagen, greift Marina Petri auf. Wandbild und gemalte Tapete, tapezierte Lampe und beklebte Konserve, bemalter und gemalter Stuhl: die Grenzen von Illusion und Realität verschwimmen. Die eigenen vier Wände werden zu Projektionsfläche für Fiktionen, die den Raum weiten und gleichzeitig gegen die Außenwelt abschotten und verschließen.
Mit der Asche der abgekratzten und verbrannten Tapete schreibt Christine Kühn quer über Wände, Fensterscheiben und Offenrohr einen Gedichttext von Georg Heym. Die einzelnen Zeilen seiner apokalyptischen Vision vom Zerfall der Kultur und dem Sterben der Natur sind aus dem sich überdeckenden Gewirr der Buchstaben nicht mehr zu entziffern. Doch gerade in seiner Unlesbarkeit wird der Wandtext zur malerischen Abreviatur eines vielstimmigen Chores der Vergangenheit. Katrin Bettina Müller
»c'est la lü!« Täglich 14-20 Uhr, bis 17. März.
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