piwik no script img

Ostdeutsche BürgerInnen sind keine Autonarren

■ BürgerInnen fordern eine umweltbewußte, sanfte Verkehrspolitik/ Untersuchung in Leipzig zeigt Überraschendes: Klischee vom autobesessenen Ostler stimmt nicht

Ostdeutsche sind Autonarren, die ihre Ostmarksparstrümpfe besinnungslos in Westautos umgewandelt haben und jetzt alles auf den Kühler spießen, was ihren unbeherrschten PS in die Quere kommt — dieses Klischee, welchem die Realität auf Ostdeutschlands Straßen ständig neue Nahrung gibt, ist nicht nur weit verbreitet, es beherrscht auch viele Politikerköpfe im Osten, die mit Straßenbau ihre Wiederwahl sichern wollen.

Eine jetzt vorgelegte Untersuchung des Münchener Verkehrsforschungsinstitutes Socialdata kommt zu ganz anderen Ergebnissen. Die Münchner, die sich mit ihrer Verkehrsmeinungsforschung bereits in vielen westdeutschen Städten einen Namen gemacht haben, befragten im Sommer 1990 Leipzigs Bevölkerung zur Verkehrspolitik. Die wichtigsten Antworten:

— Verkehr war für die Leipziger noch weit vor Wohnen, Umwelt, Infrastruktur und Arbeit das wichtigste kommunale Problem.

— 99 Prozent registrierten im Sommer 1990 eine Zunahme des Pkw-Verkehrs, aber nur 15 Prozent fanden das positiv. 98 Prozent erwarten eine weitere Zunahme bis zum Jahr 2000, 90 Prozent bewerten dies jedoch negativ.

— Als „gut erträglich“ empfanden nur fünf Prozent der Leipziger den Pkw-Verkehr. 62 Prozent entschieden sich für „weniger gut erträglich“ und 33 Prozent für „nicht mehr erträglich“. Bei einer entsprechenden Untersuchung in Hannover entfielen auf „gut verträglich“ 13, auf „weniger verträglich“ 53 und auf „nicht mehr erträglich 34“ Prozent.

Eindeutig auch die Aussagen über die gewünschte zukünftige Verkehrspolitik.

— 95 Prozent wünschen sich eine Förderung des Öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) zu Lasten des Pkw, 82 Prozent wollen den Fußverkehr auf Kosten des Autos bevorzugt sehen, und 67 Prozent votieren für Fahrrad statt Autoreifen. 97 wollen weitere Verbesserungen beim ÖPNV, 85 Prozent meinen, die Politiker sollten sich mehr um den ÖPNV kümmern.

Eine trickreiche Spezialität der Socialdata-ForscherInnen ist die Frage nach der „Einschätzung der Einschätzung“. So werden Verkehrsmacher aus Politik, Planung und Verwaltung gefragt, wie sie die Stimmung der Bürger einschätzen. Wie schon bei entsprechenden Untersuchungen im Westen tippten die Politiker auch in Leipzig total daneben: Nur 40 Prozent der Bevölkerung, so glauben sie, stände einer Förderung des ÖPNV zu Lasten des Autos positiv gegenüber.

Wie kommt es zu dieser grotesken Fehleinschätzung? Ganz einfach: Die Macher sind meist Männer zwischen 20 und 59 und gehören damit einer Bevölkerungsgruppe an, die zwar nur 25 Prozent der Gesamtbevölkerung stellt, aber als einzige mehrheitlich das Auto benutzt. So benutzen in Leipzig 80 Prozent der Menschen unter 20, 81 Prozent der Menschen über 59 und 79 Prozent der Frauen zwischen 20 und 59 die Verkehrsmittel des Umweltverbundes, also ÖPNV, Fußwege und Fahrrad. Bei den Männern zwischen 20 und 59 werden jedoch 54 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt.

Kurz: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Und so sind die positiven Werte für eine sanfte Verkehrspolitik, bei der es in den Umfragen zwischen West und Ost nur geringe Unterschiede gibt, kein Wunder. Schließlich benutzt die Mehrheit der Menschen, im Osten noch deutlicher als im Westen, nicht das Auto. Einen einzigen gravierenden Unterschied zwischen West- und Ostmeinung förderte die Leipziger Untersuchung allerdings zutage: Während in Hannover heute nur noch 26 Prozent glauben, mit Straßenbau ließen sich die negativen Folgeerscheinungen des Pkw-Verkehrs lindern, sind es in Leipzig satte 90 Prozent.

Das hat fatale Auswirkungen auf die Verkehrspolitik: Obwohl eigentlich Straßenbau abgelehnt wird, läßt er sich mit den sachlich falschen, aber zugkräftigen Behauptungen, ausgebaute Straßen verbesserten die Luftqualität und senkten die Unfallzahlen, in der Praxis noch leichter durchsetzen als im Westen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen