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Leipziger Montagsdemonstranten sind wieder da

■ IG Metall bringt 25.000 DemonstrantInnen gegen Arbeitslosigkeit in der sächsischen Metropole auf die Straße

Leipzig (dpa/taz) — Mehr als 25.000 Menschen trugen am Montag in Leipzig ihren Protest gegen Arbeitslosigkeit und sozialen Abstieg auf die Straße. Auf der traditionellen Route vom Herbst 1989 gingen die Demonstranten nach einem Aufruf der IG Metall unter dem Motto „Leipzig macht Druck auf Bonn“ über den Ring. Ihre Forderung war vor allem, „Beschäftigung finanzieren, statt Arbeitslosigkeit verwalten“. Künftig sollen wieder jeden Montag Demonstrationen in Leipzig stattfinden, um sich „mit den Füßen gegen die Politik der Treuhand-Anstalt“ zu wehren und den Bonner Politikern die Dramatik der Entwicklung in den neuen Bundesländern ins Bewußtsein zu rufen.

Auf einer Kundgebung auf dem Augustusplatz, die der Demonstration auf dem Ring um Leipzigs Innenstadt vorausging, stellte der IG- Metall-Sprecher Jochen Kletzin fest: „Offensichtlich reicht der Stimmzettel nicht aus.“ Jetzt müsse durch Demonstrationen Druck auf Bonn gemacht werden. Betriebsräte der Region forderten: „Keine Kündigungen in diesem Jahr“. Notfalls solle die Kurzarbeit verlängert werden. Sanierung soll vor Entlassung gehen.

In der Metallindustrie Sachsens sieht es nicht viel anders aus als überall in Ostdeutschland. Nach den vorliegenden Sanierungskonzepten wird jeder zweite Arbeitsplatz verlorengehen. „Hinter den anderen steht ein großes Fragezeichen“, stellt Kletzin die verzweifelte Situation der Arbeitnehmer dar. Dabei säßen immer noch dieselben Leute in den Geschäftsleitungen wie früher, meinte einer der Redner. „Die Revolutionäre von 1989 dürfen nicht die Arbeitslosen von 1991 werden“, rief er unter dem Beifall der Menge.

Immer wieder wurden auf der Kundgebung öffentliche Investitionen verlangt. Betriebswirtschaftliche Lösungen seien in der Ex-DDR nicht möglich. Gejohle begleitete die Aufforderung von Peter Sucks, Betriebsrat im Werkzeug-Prüfmaschinenwerk WPM, an Bundeskanzler Kohl, nach Leipzig zu kommen und jetzt noch einmal zu „seinen lieben Leipzigern“ zu sprechen. Rufe wie „Kohl — Lügner!“ wurden laut. Was hier derzeit ablaufe, gleiche einem „Schlachtplan“, aber keinem Einstieg in die soziale Marktwirtschaft. Nur wenn der Bund Verantwortung für den Aufbau der Infrastruktur und die Beseitigung der Altlasten übernehme, sei ein wirtschaftlicher Aufschwung denkbar. Transparente wie „Sanieren statt Planieren“ oder „von der SED beschissen — von der CDU verkohlt“ prägten das Bild der Demonstration.

Die Metaller kündigten bei ihrem Demonstrationszug über den Ring an, die Proteste allmontäglich zusammen mit den Betroffenen aus anderen Bereichen forzusetzen. „Das ist erst ein Anfang!“, rief der Gewerkschaftssekretär Wolfgang Misol. Notfalls werde man sogar einen Zug nach Bonn organisieren.

Die IG Metall in Leipzig hat mit ihrer Demonstration bewußt an die Tradition der Montagsdemonstrationen angeknüpft, mit denen die Menschen in Leipzig im Herbst 1989 die Wende erkämpft haben. Denn sie hat sich in den letzten Monaten des Neuaufbaus der Gewerkschaftsorganisation im Großraum Leipzig bewußt von den alten gewerkschaftlichen Strukturen des FDGB abgesetzt und versucht, möglichst neue, unbelastete Leute aus dem Umkreis der Bürgerbewegungen in die Betriebsräte zu holen.

Schon im letzten Jahr hatte sich ein Unterstützerkreis von aktiven Gewerkschaftern gebildet, von denen viele aus dem Spektrum der Bürgerbewegungen kommen. Die Leipziger Verwaltungsstelle der IGM ist mit inzwischen über 60.000 Mitgliedern eine der größten in den neuen Bundesländern.

Allerdings rechnen die Gewerkschafter mit der Möglichkeit, daß es wieder weniger werden. Im Arbeitsamtbezirk Leipzig wurden im Februar 41.700 Arbeitslose und knapp 100.000 Kurzarbeiter gezählt, viele davon aus dem Metallbereich. Auf Grund der Diskussion in der Verwaltungsstelle Leipzig über die Notwendikgeit einer strikten Trennung zur alten DDR-Gewerkschaft hatte die IG Metall sich insgesamt für einen völligen Neuaufbau in den neuen Bundesländern entschieden. Stefan Schwarz/Martin Kempe

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