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Die Legende Kuleschow

Zur Retrospektive des sowjetischen Filmpioniers im Berliner Arsenal-Kino  ■ Von Oksana Bulgakowa

Lew Kuleschow (1899-1970) ist im kollektiven Gedächtnis der Filmgeschichte mit zwei recht mysteriösen Allgemeinplätzen gespeichert: Er hätte Filme ohne Zelluloid gedreht (?!) und die Montage erfunden, die seinerzeit in Rußland „amerikanische Montage“ hieß und in den USA die „russische“ genannt wurde. Die widersprüchlichen Beschreibungen des legendären Montageeffekts regten immer wieder die Phantasie der Filmtheoretiker an. Dafür blieben etwa 20 Filme, die Kuleschow „nebenbei“ gedreht hatte, unbeachtet. Mit Ausnahme der vielleicht zwei berühmtesten, Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Land der Bolschewiki (1924) und Dura lex (1926). Weiter nichts: Filmriß.

Dabei war Kuleschow nicht nur der erste Experimentator, der den Film im „Labor“ getestet hatte. Er verstand Kino als faszinierende Arbeit einer Gruppe Gleichgesinnter, in der einer den anderen mit Energie und Erfindergeist ansteckt. Er selbst schuf eine solche Gruppe um sich. Eine Werkstatt, „Fabrik“. Das Ergebnis war verblüffend: Die gleichaltrigen Schüler wuchsen zu schnell und drängten alsbald den Maître in den Hintergrund. Wsewolod Pudowkin, Boris Barnet, auch Sergej Eisenstein, der hier im Schnellgang einen Montagekurs absolviert hatte. Selbst die originäre Entdeckung Kuleschows, der berühmte Montageeffekt, wurde zuerst von Pudowkin formuliert und prompt ihm zugeschrieben. Der großzügige Eleve aber stellte den Fall richtig und verriet der Weltfilmgeschichte im Namen aller Kuleschow-Schüler: „Wir machten Filme, Kuleschow schuf die Kinematographie.“

Lew Kuleschow hatte zunächst im Film großbürgerliche Jugendstilinterieurs arrangiert und stand später dem Kreis der russischen Konstruktivisten sehr nahe. Er begann beim Film als Ausstatter und arbeitete für das erlesenste Regietalent des russichen Stummfilms, Jewgeni Bauer. In einem seiner Filme trat er gar als Darsteller auf, als verliebter Maler (Auf der Suche nach dem Glück). Eine Doppelung seiner Rolle im Leben. Bauer inszenierte triviale Melodramen in hoch ästhetisierten Filmbildern mit Tiefenarrangements, von Licht überstrahlt. Der Raum war durch Podeste, Trennwände, Türen und Spiegel zergliedert, das Material auf seine Lichtdurchlässigkeit geprüft: dünne, leuchtend weiße Kleider der Frauen, durchsichtige Zaungitter und Korbmöbel (Der König von Paris, Sturmglocken). Einer der ersten theoretischen Aufsätze Kuleschwos war dem Licht gewidmet, Film wurde als Lichtkunst verstanden. Der „Kunstvater“ Bauer starb zu früh und obendrein an der gleichen Krankheit wie Kuleschows leiblicher Vater: Lungenentzündung. Kuleschow war gerade 18 geworden, und es gab damals auf der Krim wichtigeres als den Tod eines Regisseurs: die Revolution.

Die Lebensweise und Mentalität eines Russen des 19. Jahrhunderts sollten sich damit radikal ändern. Keine Jugendstilhäuser mehr, keine Damen mit großen Hüten, keine Männer in Zylinder und Frack. Die dunklen Leidenschaften, das ewige Zögern, das irrationale Fatum — damit war Schluß. Der neue Mensch baute Gesellschaft und Natur rational um und verstand Leben, Kunst und sich selbst als eine perfekte Organisationsform. Die Psyche sei streng kausal (Reiz — Reaktion), Irrationales blieb ausgeschlossen. Frack und Zylinder wurden ausgetauscht gegen Lederjacke und Fliegerhelm, das Flanieren gegen sportlichen Schritt, Laszivität gegen Akrobatik.

Zwischen Kuleschows letztem Film als Ausstatter und Coregisseur aus dem Aristokratenleben und seinem Debüt liegen weniger als zwei Monate, aber mehr als eine Welt. Das von ihm entdeckte neue Kino (und neue Lebensgefühl) nannte er „amerikanisch“ und stürzte damit Generationen von Filmhistorikern ins Unglück, weil sie es wörtlich nahmen. Seitdem haftet ihm der Spitzname „Amerikaner“ an, wie die zur zweiten Haut gewordene Lederjacke, auch gestützt durch seine Vorliebe für Motorräder, Rallyes (an denen er teilnahm) und seinen Ford, einem der ersten Privatautos auf Moskaus Straßen — neben dem Renault von Wladimir Majakowski. Amerikanismus bedeutete die Begeisterung für Technik, Tempo, Energie, pragmatischen und — ironischen Verstand. Kuleschow wollte den für Rußland tpyischen langsamen Film reformieren durch Aktion, Dynamik, Exzentrik. Die Bewegung sollte verkürzt und nur in der spannendsten Phase gezeigt werden. Das nannte er „amerikanische Einstellung“. Wenn das erreicht würde, könne die Aneinanderreihung von langen, statischen und tiefen Bildern in eine dynamische Montage von kurzen, flachen, rhythmischen Einstellungen übergehen. Der Film müsse voll und ganz auf wirksame Stereotypen bauen: Kriminalintrige und Verfolgungsjagd, Masken von Bösewichtern und Vamps in der Umgebung moderner Attribute: Zug, Flugzeug, Auto, Telefon.

Das System beschränkte sich auf sich selbst und meinte „Film pur“, Filmtechnik als Zauberkunst. Kuleschow kreierte wie ein Demiurg einen Raum, den es in der Realität nicht gab, einen perfekten Menschen aus „Teilen“ verschiedener Aufgenommener, und stellte fest, daß wir beim Filmsehen die Bedeutung des Gesehenen ständig selbst produzieren, was die Verbindung zweier unabhängiger Bilder zu einem wunderbaren Montagespiel machen kann. Das erste Bild: Einer schießt; das zweite Bild: Ein anderer fällt um. Der Zuschauer meint: getroffen, auch wenn der Schuß in Alaska und der Sturz auf Jamaika gedreht wurden. Der Mann schaut ins Nichts. Kuleschow tauscht einige Bilder aus, die danach kommen: ein Kind, einen Sarg, eine Frau. Der Zuschauer ist geneigt, das ganze als Rührung, Trauer, Begierde zu deuten. Das Abc des Films ist aufgestellt, der „Effekt“ entdeckt, von dem aus sich unser heutiges Filmverständnis so rapide entwickeln konnte.

Die Arbeit war konkret und sehr demokratisch. Die Legende schreibt Kuleschow zu, er habe eine Gruppe durchgefallener Schauspielschulbewerber aufgenommen, um zu demonstrieren, daß er sie zu genialen Filmleuten ausbilden kann. Er trainierte sie nach einem eigenen System, um aus ihnen sich perfekt bewegende „Modelle“ zu formen, die imstande sein würden, jede Emotion so expressiv in der Motorik zum Ausdruck zu bringen, daß sie der Zuschauer leicht decodiert und davon angesteckt wird. Energiesparen war gefordert: keine überflüssigen Bewegungen, kein Mißverständnis zwischen Filmbild und Zuschauer. Filmproduktion, ein aufwendiger Akt, müsse sparsam und lakonisch sein. Auch im wirtschaftlichen Sinn: drei Schauspieler, eine Dekoration, kleines Budget, „lokale Leidenschaft“ und — großes Kino: Dura lex. In dieser Gruppe von Schülern fand Kuleschow seine Muse, seine ideale Darstellerin und Frau: Alexandra Chochlowa, die Enkeltochter des berühmten russischen Kunstsammlers und Galeriebegründers Tretjakow. Zunächst war das Filmmaterial knapp, und so inszenierten sie „Filme ohne Zelluloid“ als Simulation auf der Bühne. Mit seiner Werkstatt macht er einen der lustigsten Filme der zwanziger Jahre — über einen „Mister West“: Ein reicher Amerikaner, dessen Phantasie von Comicbildern über Menschenfresser in Sowjetrußland gespeist ist, kommt nach Moskau. Eine Gruppe komischer Ganoven durchschaut ihn und inszeniert für ihn das erwartete Bild der roten Barbarei. Am Ende wird der ausgeplünderte und eingeschüchterte Mister West von „eisernen“ Kommissaren befreit, die Agit- Comics entsprungen scheinen. Das Spiel hört nicht auf.

Mr. West von Kuleschow war mosaikartig und parodistisch. Eine Richtung, die aus dem pathetischen, „totalen“ Kino der Russen herausfiel. Vielleicht wurden seine Filme deshalb nicht so berühmt wie die seiner Schüler. Zu verspielt einerseits, zu intim andererseits. Kein „Mainstream‘. Dafür bekam er Prügel — regelmäßig, und zwar ab Mitte der zwanziger Jahre. Auch der Star seiner Filme, Alexandra Chochlowa, entsprach zuwenig der üblichen Vorstellung einer Filmschönheit. „Zu dünn, zu häßlich“, lautete die Einschätzung: „Weg mit ihr von der Leinwand!“ So stellte sie sich hinter die Kamera und durfte drei Filme drehen (Sascha, Die Affäre mit den Schnallen, Spielzeug), bevor ein nächstes Berufsverbot ausgesprochen wurde. Ihr leuchtendes Haar, die Figurenkontur, wie mit Kohle gezeichnet, jene exzentrische Mimik sollten aus dem Zuschauergedächtnis verschwinden. Drei große Rollen, und sie wurde vergessen.

In den 20er Jahren lief eine Kampagne gegen Kuleschows „bürgerlichen Kitsch, Amerikanismus und Formalismus“. Auch gegen seine zwei Unterhaltungsfilme Der lustige Kanarienvogel und Zwei-Buldi- Zwei, in denen sich Kabarett und Zirkus „verselbständigten und die Revolution als Zirkusattraktion und Kabarettnummer darstellten“. Kuleschows hochinteressante Erfahrung mit dem Tonfilm und die neu erarbeitete „Repetitionsmethode“ beim Drehen (zunächst wird der ganze Film geprobt, dann schnell abgedreht) wurden als „Technik“ akzeptiert. Doch die beiden Werke, mit denen er diese Technik vorstellte, Horizont (über das Schicksal eines in die USA emigrierten und dann nach Rußland zurückgekehrten Juden) und Der große Tröster (eine satirische Parabel auf die unüberbrückbare Kluft zwischen Kunst und Leben), paßten nicht ins Kunstkonzept der Zeit. Ab 1933 war ihm das Filmemachen verwehrt. Er durfte nur noch unterrichten — und zwar das, was er nicht mehr ausüben konnte: Filmregie. Sieben Jahre später, als der Filmminister per Exekution ausgewechselt wurde, trat Kuleschow noch einmal ins Atelier und drehte einige Kinderfilme: eigenartige stalinistische Geschichten. In einer davon suchen zwei Jungen eifrig Stalins Pfeife, ein Fetisch, als Ersatz für den gefürchtet-geliebten Vater Imago; einem kleinen Mädchen erscheint Stalin als Märchenfigur im Traum (Die Sibirier) — ambivalenter Abschluß der Filmkarriere eines futuristischen Nichtfuturisten, eines konstruktivistischen Nichtkonstruktivisten.

Lili Brik, die Muse Majakowskis, war eine Zeitlang auch Kuleschows Lebensgefährtin und Mitarbeiterin. Mit ihr wollte er eines der interessantesten Drehbücher von Majakowski verfilmen (Wie geht es Ihnen?), ein verrücktes Spiel zwischen Realität, Film und der vom Film angeheizten Imagination. Die Filmgeschichte ist voll von nicht genutzten Möglichkeiten. Zwar will die Retrospektive gerade das Gemachte präsentieren, wider die Legende das Reale etablieren, doch über allem schwebt die nostalgische Erinnerung an das Nichtzustandegekommene.

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