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Veränderte Koordinaten

■ Die Sowjetunion und die Türkei schlossen einen Freundschaftsvertrag

Veränderte Koordinaten Die Sowjetunion und die Türkei schlossen einen Freundschaftsvertrag

Die Sowjetunion“, schrieb kürzlich Vitali Naumkin, Experte des Moskauer Orientinstituts, „hat das Ziel, in der Nah- und Mittelostregion ein Beziehungssystem aufzubauen, das sich nicht auf das Gleichgewicht der Mächte, sondern das der Interessen stützt.“ In der Vergangenheit war die sowjetische Außenpolitik in der Region durch den Ost-West-Gegensatz festgelegt: Die Türkei als südöstlicher „Vorposten“ der Nato, Saudi-Arabien und der Iran des Schah waren die Hauptfeinde. Mit dem Niedergang des sowjetischen Hegemonialsystems brach diese Architektur zusammen. Das „Neue Denken“ Gorbatschows mit seiner Doktrin der „hinreichenden Verteidigungskraft“ sah in der Türkei nicht mehr das Aggressionspotential, das ihr die vom Trauma der Einkreisung bedrückten Generäle der Breschnew- Ära zugeschrieben hatten.

Vollends hat der Golfkonflikt neue Prioritäten der sowjetischen Nah- und Mittelostpolitik hervortreten lassen. Neben dem Iran gilt den Sowjets die Türkei nun als zweite „Flankenmacht“ eines künftigen regionalen Sicherheitssystems. Der jetzt abgeschlossene Freundschaftsvertrag mit Ankara spiegelt diese veränderte Beurteilung wider. Die Türkei wird als europäische wie asiatische Mittelmacht gewertet, die in der Region eigene Interessen vertritt. Ohne ihre Mitwirkung keine Chance auf Befriedung — und damit auf ein Ende der übermächtigen amerikanischen Militärpräsenz. Vorherrschendes Thema des Vertrages ist die Verzahnung, die „Interdependenz“ in der Politik und vor allem in der Ökonomie. Die Türkei wird als Investor für die angrenzenden Sowjetrepubliken willkommen geheißen. Nicht umsonst haben in letzter Zeit vor allem usbekische Intellektuelle die Türkei Özals als ein Muster für die Öffnung gegenüber ausländischem Kapital angesehen.

Innenpolitisch ist dieser Annäherungsprozeß an die Türkei für die Sowjetunion nur mit begrenzten Risiken verbunden. Die nationalen Bewegungen in den turksprachigen Republiken wollen ökonomische Selbständigkeit und Rückbesinnung auf die großen kulturellen Traditionen, nicht aber den Austritt aus der Union. Pantürkische Ideen sind nicht populär, dies um so weniger, als schon zu Zeiten Kemal Atatürks die Interessen der sowjetischen Turkvölker guten Beziehungen zur Sowjetunion geopfert wurden. Von der höchst realen Gefahr aber — der islamischen Erneuerungsbewegung — sind die Türkei und die Sowjetunion gleichermaßen betroffen. Christian Semler

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