Geliebt, beweint und doch vergessen

■ Ein Spaziergang über den Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde

Alle paar Tage laden verschiedene Institutionen zu Lokalterminen. Die Orte der Stadt und ihrer Umgebung, die im allgemeinen so beziehungslos gleichgültig und gegenwärtig nebeneinander liegen, sollen verbunden werden mit tausend wissenswerten Geschichten.

Wer sich für Natur interessiert, muß allerdings sehr früh aufstehen — Wanderungen zum »Wasservogel-Schongebiet« in Buckow, Exkursionen rund um die Rehberge oder Ausflüge zu »Enten, Sägern, Singschwänen und Gänsen im Odergebiet« beginnen meist schon vor Sonnenaufgang. Wer sich dagegen eher für die Geschichte der Menschen und Orte als für die der Natur interessiert, kann ausschlafen. Die Termine jedenfalls, die das »Kultur Büro Berlin«, »eine Initiative arbeitswilliger Kunsthistoriker, Künstler und Pädagogen« dem neugierigen Publikum anbieten, liegen durchweg zivil am späten Vor- oder am frühen Nachmittag. Und wer Samstag um eins noch schläft (oder mittagessen will), der geht eben um drei zum Zentralfriedhof Friedrichsfelde mit der Gedenkstätte der Sozialisten, so wie Detlef Kuhlbrodt.

In der Vorstellung ist der Friedhof immer ein fester Ort, der sich nicht bewegt, weil sich die Leute, die dort liegen, nicht bewegen. So kann man schön nachdenken, während sich verwandte Heger und Pfleger mit Harken und kleinen Unkrautwegmachern über die Gräber bücken. Vielen Alten ist der Friedhof natürlicher Lebensraum, einer der wenigen öffentlichen Orte, die übriggeblieben sind. Oft setzen sie auch ihren Namen schon auf den Grabstein des verstorbenen Lebensbegleiters.

Auf manchen Grabsteinen liest sich das Leben wie ein Abzählreim, dessen einzelne Glieder sich immer mehr vom konkreten Körper entfernen: »Geliebt, beweint und unvergessen« (»verliebt, verlobt, verheiratet«).

Gibt es mehrere übriggebliebene Generationen, so wird der Tote an seinem Familienplatz lokalisiert: »Mutti«; Frau, Mutter und Oma; »lieber Mann, unser guter Vater«. »Vati« oder »Papi« werden meist vergeblich gesucht. Die Koseform ist den Frauen vorbehalten, während tote Männer die Autoritätsplätze besetzen. Nur ein Monument von 1919 durchbricht dieses Muster. Dort gedenken die »graphischen Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen« »ihrer Führerin«.

Manche stehen sinnend, weil sie die Stimme noch im Ohr haben von jemandem, der jetzt dort unten liegt. »Warum« ist eine gängige Grabinschrift; das dazugehörige »Darum« formuliert sich auf den Grabmälern und -platten des Zentralfriedhofs Friedrichsfelde ganz unterschiedlich.

Die einen lassen die Toten von den Qualen des Lebens sprechen. Zumindest zweimal haben die Überlebenden dem Steinmetz folgenden Spruch diktiert: »Weinet nicht an meinem Grabe/ Gönnet mir die ewige Ruh/ denkt was ich gelitten habe/ eh ich schloß die Augen zu.«

Die anderen lassen die Toten für die »Sache des Friedens« gestorben sein, ehren die, die für den Sozialismus gestorben, gefallen oder ermordet worden sind und mahnen damit die Zukünftigen. An den Gräbern der Sozialisten verbinden sich die Lebenden mit den Toten zu einem gemeinsamen Kampf. Am Grab soll etwas von der Kraft der Toten auf die Lebenden übergehen und helfen, den Tod zu überwinden. »Kämpfende Jugend erschrickt nicht der Tod«, heißt es auf der Tafel für Herbert Neumann, der mit zwanzig für die Kommunistische Jugendinternationale gestorben ist. (So war der tote Neumann fünfzehn Jahre jünger als die real noch lebenden Vorsitzenden der Jugendorganisationen »unserer Parteien«.)

In der zentralen Gedenkstätte für Arbeiterführer und Sozialisten, die in den Gründerjahren der DDR geschaffen worden war, verzichtete man dagegen weitgehend auf Worte. Die Namen waren Programm genug; die Toten waren kollektives Eigentum der DDR-Geschichte, die sich als Fortsetzung oder Vollendung ihres Lebenswerks begriff. Doch inzwischen brennt in den Opferschalen am Eingang der Gedenkstätte kein ewiges Feuer mehr, und die zwei Fahnenmasten sind leer.

Im Zentrum der Gedenkstätte steht ein hohes, unregelmäßiges, stelenartiges Granitmal mit zwölf radial gelegten Steinplatten, auf denen die Namen der großen Arbeiterführer im Uhrzeigersinn angeordnet sind: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Ernst Thälmann, Franz Mehring, Rudolf Breitscheid, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht. Mit den zwölf Erinnerungsplatten hat sich der »Ring der verdienten Sozialisten« jedoch geschlossen. Vermutlich hätte auch unter anderen politischen Verhältnissen Erich Honecker hier keinen Platz mehr gefunden. Auf dem Grab von Otto Grotewohl liegen frische Nelken; die Blumen bei Rosa Luxemburg sind verwelkt. Auf das Grab von Wilhelm Pieck hat der mitleidige Wind einen Nelkenkopf geweht.

Das Granitmal wird eingerahmt von einer Ringmauer, auf der an weitere hervorragende Arbeiterführer erinnert wird. Eine großen Tafel nennt die Namen von 38 gestorbenen, dreizehn in der Zeit der Weimarer Republik ermordeten, etwa fünfzehn im Spanischen Bürgerkrieg gefallenen und ungefähr 250 von den Faschisten umgebrachten Sozialisten. Die zweiundsechzig Tafeln der Ringmauer — vom Arbeiterdichter Willi Bredel bis zu Friedrich Ebert — sind ebenfalls chronologisch angeordnet. Doch auch hier ist das Nachschlagewerk der Arbeitergeschichte vollendet. Auch wenn eigentlich noch Platz genug für ein paar neue Arbeiterführer vorhanden ist, finden innerhalb der Ringmauer keine weiteren Bestattungen mehr statt. Nur im hinteren Teil des Friedhofs wird die Gedenkstätte der Sozialisten noch belegt. Dort haben zumeist die Toten der »zweiten Garde der DDR-Politik« ihre letzte Ruhestätte in einem Feld von Urnengräbern gefunden. Die kleinen, grauen Grabsteine sind identisch und wirken so vielleicht angemessener als pompöse Monumente. Erinnerungen an verdiente Sozialisten finden sich an allen Enden des Friedhofs. Um das Grab von Käthe Kollwitz gruppierte sich zum Beispiel mit Otto Nagel, Ludwig Turek, Ludwig Renn und Paul Wiens eine kleine Künstlerkolonie. Von dem expressionistischen Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, das Mies van der Rohe 1926 einweihte und das 1935 von den Nationalsozialisten abgetragen wurde, blieb dagegen nur das Fundament übrig.

Auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde, der 1881 als erster nichtkonfessioneller, kommunaler Friedhof in Berlin eröffnet wurde und zumeist letzte Ruhestätte der Ärmsten der Armen war, die hier ohne jede Zeremonie auf Kosten der Krankenkasse unter die Erde gebracht wurden, begegnet man jedoch auch dem gewöhnlichen Ensemble großstädtischer Friedhöfe: verfallene und sorgsam geordnete Bezirke wechseln sich ab mit den Brachfeldern für die nächste Generation der Toten; man findet komische oder schöne Namen und Berufe (»mein geliebter Bräutigam, der Fleischbeschauer«), Vogelhäuschen und laufende Wasserhähne, Frühlingsblumen und ein verwittertes Becken am Rande, gerahmt von zwei hübschen, nachdenklichen Kindern. Doch der Kopf des Jungen fehlt und liegt längst schon auf irgendeiner Müllkippe. Vielleicht hat ihn sich auch nur ein Friedhofsbesucher mitgenommen.

Der Friedhof ist nicht, wie andernorts üblich, durch hohe Baumreihen abgeschirmt, sondern geht unvermittelt in die Außenbezirke des Lebens über. Plötzlich findet man sich zum Beispiel in einer Kleingartenkolonie. Am Rande sieht man die Rohre irgendwelcher Fernheizungen, stehen Fabrikschornsteine oder Strommasten, auf denen Vögel sitzen. Um die Gräber gruppieren sich Wohnsilos in blassen Schwimmbadfarben. Alle paar Minuten hört man die S-Bahn vorbeirattern.

Direkt hinter dem Zaun hat eine Fabrik bunt bemalte Transparente ausgehängt. Man sieht Rotkäppchen oder Schneewittchen und die sieben Zwerge. »Was soll das bedeuten an dem Gebäude da«, fragen sich zwei alte Frauen. Vielleicht werden da Märchen hergestellt oder Gartenzwerge gefertigt.

Der Zentralfriedhof Friedrichsfelde mit der Gedenkstätte der Sozialisten ist am besten über die S-Bahnstation Friedrichsfelde-Ost zu erreichen. Am 30. März, am 13. und 27. April, jeweils um 13 und 15 Uhr, veranstaltet das »Kulturbüro Berlin« unter dem Titel »Vom Vorkämpfer zum Vorsitzenden« kundige Friedhofsführungen.