: „Da“ oder „Njet“
■ In Moskau kontrollierten Wahlbeobachter den Urnengang
Wladimir Porotkow zählt genau mit. Jede Stimmabgabe beim Referendum verwandelt sich zu einem kleinen Kringel in seinem Heft. „Schon rund 890 Wähler haben ihre Zettel in die Urnen geworfen“, sagt er und beugt sich verschwörerisch vor: „Weit über die Hälfte gegen den Erhalt der Union.“ Bevor die Zettel in dem großen braunen Kästen verschwinden, kann der Wahlbeobachter der außerparlamentarischen Bewegung „Demokratisches Rußland“ genau sehen, ob dort „Da“ oder „Njet“ angekreuzt wurde, denn nur wenige falten ihre Stimmzettel.
Im vierten und fünften Wahllokal des Eisenbahnbezirks im Norden Moskaus hat sich um die Mittagszeit eine kleine Schlange gebildet. In der Mehrzahl sind alte Leute gekommen. Konstantin Boroduschkin ist Mitglied der Wahlkommission und zugleich Beobachter für das „Demokratische Rußland“. „Wir achten darauf, daß jeder die korrekte Anzahl an Stimmzetteln erhält und daß keine Propaganda betrieben wird“, sagt er. Dafür, daß keine Wahlzettel nachträglich in die Urnen geschmuggelt werden, garantiert sein Gesinnungsgenosse Porotkow hinter den Kabinen.
Auch bei der Auszählung der Stimmen werden beide dabei sein, berichtet er. Dennoch — trotz der Anwesenheit der Demokraten in allen Wahllokalen der Stadt und soweit es geht des Landes, mag Boroduschkin nicht so recht daran glauben, daß das Ergebnis schließlich der Wahrheit entspricht.
Die Moskauer Wählervereinigungen konnten schon einen „Schummelversuch“ aufdecken: Behinderte alte Leute bekamen ihre Wahlzettel im voraus nach Hause geschickt; bei vielen war das Nein schon durchgestrichen. „Wahrscheinlich wird das offizielle Ergebnis um rund 15 Prozent vom tatsächlichen abweichen“, zuckt er die Schultern. Um jedoch die Abstimmung in der gesamten Sowjetunion kontrollieren zu können, fehlten bei weitem die Beobachter.
Mit oder ohne Wahlbetrug ist Boroduschkin davon überzeugt, daß sich die Mehrheit der Bevölkerung für den Erhalt der Union aussprechen wird: „Wer will schon, daß sich die Sowjetunion auflöst? Durch die Fragestellung wird jedoch ein Ja zur Union gleichzeitig zu einem Ja zum Sozialismus. Und darauf wird die Regierung das Volk anschließend festnageln.“ Mechthild Henneke, Moskau
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