: Leichtbekleidete mit Becher am Penis
■ Die Bundeswehr erobert Berlin und bringt die gute alte Tradition der wehramtlichen Fleischbeschau mit/ Nach dem schwarz-rot-goldenen Idiotentest sind ganze 117 »Verwendungen« möglich
Berlin. Darauf waren die Ausbilder aus dem Westen nicht vorbereitet: Eltern brachten ihre Söhne bis vor das Kasernentor und drückten sie ans Herz, als würden sie die jungen Männer nie wiedersehen. Viele der Einberufenen trudelten im Laufe des 2. Januar sturzbetrunken beim 5. Luftwaffen-Ausbildungsregiment ein; angetrunken waren die meisten.
So begrüßten sie völlig hemmungslos die fremde Umgebung: Einige urinierten aus dem Fenster, andere randalierten auf den Stuben oder pöbelten Unteroffiziere an [sowas aber auch! d. säzzer]. Während sich die Ausnüchterungszellen füllten, dämmerte es den Führern in Oliv, daß diese Randale Tradition hat — bei der NVA nämlich. Da sei das so gewesen, »wochenlang kein Ausgang und viel Alkohol«, sagt der Personaloffizier Jürgen Haack. Und die eingezogenen Männer, die alle aus den neuen Ländern und Ost-Berlin stammen, hätten geglaubt, daß es beim Bund »genauso läuft«.
In Bad Düben, 20 Kilometer von Bitterfeld entfernt, merken die rund 1.200 Soldaten in der Grundausbildung nun, daß es bei der Bundeswehr anders zugeht — anders auch als in der zivilen Welt. Diese Erfahrung werden die ersten Westberliner machen, wenn sie voraussichtlich ab 2.Januar 1992 mit olivgrünem Stoff und schwarzen Stiefeln Fühlung aufnehmen; das Landeseinwohneramt hat dazu im Februar den Jahrgang 1972 aus dem Teich der Wehrpflichtigen gefischt. Die Kreiswehrersatzämter (KWEAs) übernehmen den Fang und prüfen ihn auf »Tauglichkeit« sowie »Eignungs- und Verwendungsfähigkeit«.
Im ersten Fall wird der Wehrpflichtige mittels einer Postkarte »gebeten«, sich zur »Musterung vorzustellen«. Daß dies nur die höfliche Form eines Befehls ist, begreift, wer unentschuldigt fehlt: Er wird »möglicherweise polizeilich vorgeführt«, sagt Hans Jürgen Martens vom KWEAI in Treptow. Dahin müssen die 19jährigen aus den südlichen Bezirken Berlins. Die ersten werden im Frühsommer die ärztlichen Untersuchungen durchlaufen.
Im Haus Nr. 5 der NVA-Kaserne von einst schreiten die Männer durch Gänge und Räume. Einzeln, versteht sich. Es sei nie eine »Gruppe von Nackten« zusammen, versichert Musterungsärztin Ulrike Klammroth, sondern vielleicht von »Leichtbekleideten«. Heißt: In Turnhose geht es ins Labor, auf die Waage, ans Längenmaß und in den winzigen Nebenraum, wo der junge Mann mit dem Becher am Penis hofft, daß sie etwas hergibt, die Blase.
Dienstunwillige haben nun Muße für den Versuch, der Pflicht zu entrinnen. Mit einem Tröpfchen Blut im Urin, zum Beispiel. Aber, sagt die Ärztin, das bringe nur einen »gewissen Aufschub«; man werde zu einem Facharzt geschickt. Und der bringt mit viel Technik und Zeit fast immer die Wahrheit ans Licht. Noch am selben Tag erfahren die meisten Gemusterten ihr Urteil. Drei Herren sitzen da vor einer Deutschlandfahne, und einer verkündet: »wehrdienstfähig«— oder eben nicht.
Die Männer, die taugen, nicht verweigern und bei denen, so der Psychologe Klaus Arndt, eine Einberufung in »absehbarer Zeit möglich ist«, werden einige Wochen später mit der nächsten Postkarte bedacht: Die Ladung zur Eignungs- und Verwendungsprüfung, in Volkes Mund »Idiotentest« genannt. Arndt bereitet in Treptow alles dafür vor.
Rechtschreibung wird geprüft, die Ohren beim Funkertest und so weiter — einen ganzen Tag lang. Es kann auch angekreuzt werden, ob es denn Marine, Heer oder Luftwaffe sein soll. Unentschlossene können sich auf Hochglanzfotos, die zum Beispiel skifahrende Gebirgsjäger zeigen, anschauen, was für sie das Richtige ist. Ausgewertet wird allerdings nicht nur nach Wunsch, sondern auch danach, in welche der 117 möglichen Verwendungen der Wehrpflichtige »am günstigsten einzuberufen ist«, sagt Arndt.
Wohin die Westberliner gerufen werden ist unklar; die Bundeswehr ist gerade dabei, sich in und um Berlin in Stellung zu bringen. Nach Kladow kommt ein Jägerbataillon — rund 700 Mann. Alle anderen werden vorerst heimatfern eingesetzt: »Wir haben nicht hinter jedem Misthaufen einen Truppenübungsplatz«, sagt der Leiter des KWEA in Treptow, Helmut Reinöl. Zudem wollen Militärplaner Westrekruten den Standard der alten NVA-Unterkünfte nicht zumuten.
Folglich rücken die Männer aus dem westlichen Teil der Stadt in die Kasernen der alten Länder ein. Aber auch da heißt es: zum Friseur, die Ohren frei, der Nacken kurz. Wecken um halb sechs, mit der Trillerpfeife. Zum Frühstück im Gleichschritt. 11,50 DM am Tag. Zum Exerzieren mit Stahlhelm. Zur Waffenausbildung, zack, zack! [Ja, ja, die ganze unbeliebte, phantasietötende Scheiße, die so völlig unnötig ist! d. säzzer] Letzteres ging bei den Ostrekruten »ganz schnell«, sagt ein Unteroffizier. Das hätten die in der »Gesellschaft für Sport und Technik« schon gelernt. Dagegen sei das Grundgesetz »nicht so bekannt«. Auch darauf waren die Ausbilder aus dem Westen nicht vorbereitet. Stefan Harbeck
Diese Seite wurde im Rahmen eines Praxisseminars am Institut für Publizistik der FU recherchiert und produziert. Leiterin: Kordula Doerfler
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