: Ein Paradies verkommt zur Hölle
Not im Hinterland von Haiti wächst/ Bürgerkriegszustände in der Hauptstadt/ Der neue Präsident Pater Aristide sagt Korruption, Gewalt und Armut den Kampf an/ Befreiungstheologen sind die Hoffnungsträger ■ Aus Port-au-Prince H.-C. Buch
Der Nordwesten Haitis, wo Kolumbus vor 500 Jahren das Paradies auf Erden entdeckt zu haben glaubte, ist heute die verdorrteste und ärmste Region der ohnehin bitterarmen Karibikinsel. Regen fällt hier noch seltener als in den übrigen Teilen des Landes, denn die Regenzeit bleibt seit Jahren aus — eine Folge der fortschreitenden Entwaldung.
Doch hier fehlt es nicht nur an Wasser: Es gibt kein elektrisches Licht, keine Kühlschränke, die holprigen Straßenpisten sind nur mit Spezialfahrzeugen passierbar — wenn überhaupt. Das einst fruchtbare und üppige Bergland hat sich in eine staubige Hochebene verwandelt. Der Volksmund hat diesem dürren Stück Land, auf dessen verkarsteten Böden außer Dornbüschen und Kakteen fast nichts mehr gedeiht, einen bezeichnenden Namen gegeben: Savanne Zombie.
Wegen aufwendiger Transporte sind die Preise hier doppelt bis dreimal so hoch wie in der Hauptstadt — alle Gegenstände des täglichen Bedarfs müssen mit Lastwagen aus Port-au-Prince herbeigeschafft werden, denn wie die meisten Staaten der Region ist Haiti völlig auf die Hauptstadt ausgerichtet. Für ihre kärglichen Produkte — Holzkohle, Hirse und aus dem Meer gewonnenes Salz — bekommen die Bewohner der Nordwestprovinz nur einen Bruchteil des Preises, den sie auf dem Markt in Port-au-Prince einbringen. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Endstation für die notleidende Bevölkerung sind oft die Slums der Hauptstadt, wo die Allerärmsten zwischen Müllhaufen und stinkenden Abwasser-Rinnsalen zusammengepfercht dahinvegetieren. Oder der Friedhof, auf dem die Toten es besser haben als die Lebenden — für die Bestattung ihrer Kinder geben die haitianischen Bauern ihre letzten Ersparnisse aus. Die buntbemalten Gräber sind stets mit Blumen geschmückt.
Einige suchen ihr Heil als Boat people in der Flucht; nicht selten endet diese auf dem Meeresgrund, in einem Internierungslager in Florida oder in einem Gefängnis auf den Bahamas. Wer das Glück hat, als Tellerwäscher auf Kreuzfahrtschiffen oder als Autowäscher in Miami seinen Lebensunterhalt zu verdienen, hat es geschafft: Er trägt mit harten Dollars zum Überleben seiner auf Haiti zurückgebliebenen Angehörigen bei. Die Geldüberweisungen aus der sogenannten Diaspora machen inzwischen die Hälfte des haitianischen Nationaleinkommens aus — die andere Hälfte stammt aus Auslandskrediten.
Haiti, einst die wertvollste Kolonie Frankreichs, die halb Europa mit Zucker und Kaffee versorgte, produziert keine Exportüberschüsse mehr; selbst die Fertigung von Transistorradios und Baseballs zu Billiglöhnen ist zum Erliegen gekommen, vom Tourismus ganz zu schweigen: Unter dem doppelten Druck von Aids und politischen Unruhen hat der Club Méditerrannée die „Perle der Antillen“ aus seinem Programm gestrichen. Haiti — ein Faß ohne Boden, das seit Jahrzehnten Unmengen an Geld und gutem Willen verschlingt, und zugleich ein Friedhof gescheiterter Entwicklungsprojekte, deren technischer und finanzieller Aufwand in keinem Verhältnis zum Resultat steht.
Zur Korruption der einheimischen Oberschicht gesellte sich der Größenwahn internationaler Experten, die Haiti als entwicklungspolitisches Eldorado betrachteten, auf dem sie ihre wildesten Phantasien unkoordiniert und unkontrolliert austobten. Bei der Bevölkerung waren und sind Entwicklungshelfer ähnlich unbeliebt wie die Missionare, die in klimatisierten Landrovern das Landesinnere durchqueren, um den Haitianiern ihre Heilsgewißheiten aufzuschwatzen — um nach zwei, drei Jahren mit gut gepolsterten Bankkonten die Insel wieder zu verlassen. Kein Wunder, daß bei den gewalttätigen Ausschreitungen während und nach dem Sturz der Diktatur neben Missionsschulen und Spitälern auch Entwicklungsprojekte zerstört und geplündert wurden, wobei Wasserrohre zu Fußballtoren und Windräder zu Gartenzäunen zweckentfremdet wurden.
Die Grenze zwischen den kriminellen Machenschaften nach wie vor marodierender Tontons Macoutes, jener Mordkommandos der vergangenen Baby-Doc-Ära, und der berechtigten Gegenwehr der Bevölkerung ist fließend. Und wie in jedem Bürgerkrieg werden dabei nicht nur materielle Werte zerstört. „La politique c'est la mort“ lautet ein geflügelter Satz in Haiti, und das ist wörtlich zu nehmen: In Port-au-Prince vergeht kaum ein Tag, ohne daß ein politisch motivierter Mord geschieht. Ein Opfer der Zenglendos, wie sich die Nachfolger der Tontons Macoutes heute nennen, war kürzlich ein Geldwechsler, der auf offener Straße erschossen wurde. Auf der Jagd nach dem unbekannten Täter, der mit seiner Beute entkam, lynchte die aufgebrachte Menschenmenge einen zufälligen Passanten. Er wurde mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt.
Pater Aristide, der bei den ersten demokratischen Wahlen im Dezember überraschend gewählte Staatschef, hat unter dem Motto „Transparenz und Partizipation“ den Grundübeln der Gesellschaft Haitis den Kampf angesagt: Gewalt und Korruption, materieller Armut und kultureller Rückständigkeit. In der Antrittsrede rief er seine Anhänger dazu auf, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten und bot ehemaligen Tontons Macoutes rechtsstaatlich faire Verfahren an. Er dankte auf deutsch für die projektbezogene Hilfe aus der Bundesrepublik, die nicht in dunklen Kanälen versickert, sondern direkt den Betroffenen zugute gekommen sei.
Vielleicht dachte er dabei an den aus dem Saarland stammenden Pater Ferdi — bürgerlicher Name Philippi —, der seit 25 Jahren im Nordwesten Haitis die notleidende Bevölkerung betreut; ein christlicher Sozialarbeiter, der das Armutsgelübde seines Ordens ernst nimmt, indem er unter den Ärmsten der Armen lebt. Ohne die von Pater Ferdi verteilten Lebensmittel, Kleider und Medikamtente, ohne die mit seiner Hilfe gebauten Straßen und Schulen und ohne das von ihm gegründete Waisenhaus wären viele Menschen im Hinterland von Haiti längst an Hunger und Krankheiten gestorben.
Weil er christliche Nächstenliebe nicht bloß predidgt, sondern auch praktiziert, gerät Pater Ferdi, ähnlich wie Père Aristide, immer wieder mit den Kirchenoberen in Konflikt. Sie verübeln, daß er sonntags in der Kirche Western- und Witzfilme zeigt (aus denen der Bischof von Port-de- Paix vorher alle Kußszenen herausschneiden läßt), und daß er auf Wunsch Antibabypillen und Präservative ausgibt, weil nur so das Bevölkerungswachstum zu stoppen ist.
„Bei seinem Kurzbesuch in Haiti hat der Papst zwar Baby Doc seine Aufwartung gemacht, aber keinen Fuß in die Slums gesetzt“, sagt Pater Ferdi, „und was die Voodoo-Priester betrifft, so täten sie besser daran, die heiligen Mapoubäume zu schützen, in denen nach kreolischem Volksglauben die Voodoo-Götter wohnen, damit in den Bergen von Haiti nicht demnächst auch noch der letzte Baum gefällt wird.“
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