piwik no script img

„Wer Nazi ist, bestimme ich“

■ Volker Jehles Hildesheimer-Werkgeschichte

„Mehr Worte, weniger Taten!“

Autoren werden außerhalb der Feuilletons nur noch dann zum Thema (und erheblich besser verkauft), wenn sich ein außerliterarischer Skandal ereignet, so geschehen nach Uwe Johnsons Tod, während der Rechtsstreitigkeiten um Arno Schmidts Werk und bei Wolfgang Hildesheimers öffentlich deklariertem, mehrfach begründetem Entschluß, „nicht mehr zu schreiben“. Der löste Umfragen, Debatten und immer neue Interviews mit Hildesheimer selbst aus, sie sollen hier nicht erneut diskutiert werden. Sein Entschluß ist ehrenwert, seine Gründe sind nachvollziehbar, auf strenge Subjektivität hat er immer verwiesen, nicht nur in dieser Angelegenheit — und er hat sich daran gehalten. Die Häme, mit der alle seit 1983 erschienenen Bücher begrüßt wurden, ist verfehlt und kann nur aus Unkenntnis der Werkentwicklung entspringen. 1975 hat er die Rede The End of Fiction gehalten, es folgten die Flucht- und Verdrängungsbücher Mozart und Marbot, der gattungslose Text Mitteilungen an Max (noch am ehesten als sprachkritisch- surrealistische Reflexionen zu bezeichnen), und dann eben nur noch Texte ohne literarischen Anspruch — die Auskehrung seines Zettelkastens, handwerkliche Kommentare zur Entstehung und Machart seiner Collagen, politische Glossen. Mit diesem „Ende des Schreibens“ wurde nie der schlagartige Rückfall in den Analphabetismus behauptet, sondern einzig und allein die Verweigerung literarischer Kunstprosa; und darin ist Hildesheimer — bis jetzt jedenfalls — konsequent geblieben.

Eine komprimierte Beschreibung seiner Werkentwicklung bietet Volker Jehle in Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte. Er interpretiert jedes Werk relativ knapp, mit unterschiedlichen Gewichtungen, nach Genres unterteilt. Prosa, Hörspiele und Theaterstücke, Übersetzungen und Bearbeitungen, Bildende Kunst. Hildesheimers Reden und Aufsätze bekommen kein eigenes Kapitel; damit trägt Jehle der Unmöglichkeit Rechnung, dies Werk säuberlich zu unterteilen: Hildesheimer war von den ersten öffentlichen Äußerungen an das, was heute allgemein als modische Forderung im Raum steht und nur selten eingelöst wird: interdisziplinär. Er hat kreativ auf den Gebieten der Literatur und Bildenden Kunst gearbeitet, analytisch zusätzlich auf dem der Musik. Es scheint außerdem, als habe er sich zu allen Bereichen seiner Lebenswirklichkeit geäußert, inklusive des Kochens. Deshalb ist es eine glückliche Lösung, theoretische und Interview- Äußerungen überall einzuarbeiten, nicht zu isolieren, was nicht zu isolieren ist. Schon die jetzige Gliederung würde heftig knirschen, wenn Jehle nicht permanent in der Chronologie springen, wiederkehrende Gedankengänge nicht in allen Stufen zeigen und verknüpfen würde. Dabei leistet die Besprechung der Prosa eher eine Zusammenschau der bisherigen Forschungsansätze als wirklich Neues. Jehle leitet das Hildesheimer-Archiv in Frankfurt, hat dadurch Einblick in Unveröffentlichtes, Briefe, Skizzen — einen Nachlaß zu Lebzeiten; seine Deutungen sind deshalb gut abgesichert, bleiben aber handfest, eine Freude für Deutschlehrer. Für den wissenschaftlichen Gebrauch fehlt etwas Wesentliches, die Bibliographie: ob Primär-, ob Sekundärliteratur, Jehle nennt nur Autor, Titel, Seitenzahl und erschwert jede weiterführende Beschäftigung, indem er lediglich auf seine Hildesheimer- Bibliographie verweist (P. Lang Verlag, 1984), die aber im Buchhandel nicht mehr erhältlich ist.

Die eigentlichen Überraschungen finden sich im Kapitel der Prosaübersetzungen. Wie stark der Einfluß Djuna Barnes' — deren Nightwood Hildesheimer übersetzte — ab 1957, also schon auf die letzten Lieblosen Legenden war, wird hier erst so recht deutlich, auch sein literatur-analytisches Genie, anhand eines Kommentars der Teilübersetzung von Joyces Finnegans Wake. Davor gab es zwei Übersetzungen, wo sich fragt, warum er sie sich angetan hat: Anne Pipers Roman Early to Bed (dt. Jack und Jenny, 1955), einen rechten Unterhaltungsschmonzes, der sich noch als ,für bares Brot übersetzt‘ abtun läßt, und 1952 The Jungle is Neutral von einem Frederick Spencer Chapman, der einzige Fall in dieser Werkgeschichte, in dem Jehle Fassung und Verständnis verliert: daß Hildesheimer, nachdem er Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen war und die Prozeßprotokolle redigiert hatte, „dieses fürchterliche Buch übersetzt hat, ist zutiefst erschreckend“. Es handelt sich um ein eher militärgeschichtliches Werk eines britischen ,Bruder Eichmann‘ über den Krieg gegen Japan im malaiischen Dschungel; die unerträglichste Passage: „Beim Diner gab es ein Fleischgericht, über dem ein gewisses Geheimnis zu liegen schien. Ich fand es ausgezeichnet; es hatte nicht den starken Nachgeschmack des Affenfleisches, war allerdings nicht so gut wie Wildschwein. Nach dem Essen verriet man mir, daß ich Japaner gegessen hatte. Ob das stimmt oder nicht, kann ich nicht sagen; allerdings hate ich in einigen Lagern gehört, daß die Leute das Herz und die Leber von Japanern aßen, die bei Gefechten am Dschungelrand getötet worden waren. Wenn ich auch nie bewußt ein Menschenfresser geworden wäre, so war es doch recht interessant für mich, Menschenfleisch gekostet zu haben.“

Jehle sucht Entschuldigungen, meint, die Übersetzung zeige Ablehnung, „soweit eine Übersetzung Ablehnung eben zeigen kann“, vermutet probehalber eine politische Demonstration, was Menschen — nicht nur die Nationalsozialisten — alles zustande brächten. Dennoch bleibt letztlich ungeklärt, warum Hildesheimer diesen Übersetzungsauftrag nicht zurückgewiesen hat.

Überhaupt unterscheidet sich Jehle von den meisten Rezipienten dadurch, daß ihn nicht nur des Autors Depressionen und seine Bewältigung ästhetischer Probleme interessieren, sondern auch die regelrecht aufragende politische Biographie. Hildesheimer hatte das Glück, schon 1933, 19jährig, Deutschland verlassen zu können, lebte in England, Frankreich, der Schweiz, vor allem in Palästina, wo er 1943-46 Information Officer der britischen Regierung war. Ab 1946 lebte er in Deutschland: als Dolmetscher und Redakteur bei den Nürnberger Prozessen, dann in Ambach am Starnberger See, zunächst als bildender Künstler, seit 1950 als Schriftsteller. 1957 „emigrierte“ er nach Poschiavo/Graubünden, wo er bis heute lebt; 1964 nach dem Grund befragt, antwortete er mit einer Schärfe, die in dieser Zeit ihresgleichen sucht: „Ich bin Jud. Zwei Drittel aller Deutschen sind Antisemiten. Sie waren es immer, und sie werden es immer bleiben.“

Jehle beschreibt wie Hildesheimers Bedürfnis nach Verdrängung sich über Jahre reduzierte, wie politische Analysen allmählich quasi hinauf-sickerten ins literarische Werk, bis hin zur Offenheit von Tynset und Masante, die eben nicht „nur“ Höhepunkte deutschsprachiger Prosa nach 1945 sind: „Wo war es, daß ich eine Trommel sah, bezogen mit dunkler menschlicher Haut, in Sansibar verfertigt? — und wo war es, daß ich Lampenschirme sah, aus heller menschlicher Haut, verfertigt von einem deutschen Bastler, der heute als Pensionär in Schleswig-Holstein lebt?“ (aus: Tynset)

Letzteres war in Nürnberg — hier decken sich Autor und Prosa-Ich. „Wer Nazi ist, bestimme ich.“

Mit dem Hörspiel Hauskauf (1974) schloß Hildesheimer die Thematik der alten und neuen Herren der Welt, der „Ausrotter“; das nächste, Biosphärenklänge (1977), reflektiert schon vor allem die Weltzerstörung, die als letal diagnostiziert wird; seine Stellungnahmen hierzu, die in den Abschied von der Literatur mündeten, sind bekannt und waren offensichtlich unüberhörbar: Jehle kann feststellen, daß alle Versuche einer Widerlegung Hildesheimers aus einer Verteidigungsstellung heraus erfolgt sind. Die politischen Glossen Klage und Anklage (1989) resümieren seine Position konzentriert und eindringlich.

„Jedenfalls ist es Zeit einzusehen, daß die Schäden, die wir der Welt in den letzten Dekaden zugefügt haben, nicht wieder rückgängig gemacht werden können, daß sie sich vielmehr auf bisher ungeahnten Gebieten fortzeugen und Probleme schaffen, an die niemals jemand gedacht hat. (...) Wir stoßen ins Ungewisse, Ungesicherte vor, und jeglicher Versuch eines Vergleichs mit scheinbar ähnlichen Stadien im Lauf der Menschheitsgeschichte — das strapazierte Lieblingsargument der Gewinner — ist eine Fälschung, ein niedriger und frivoler Fehlschluß. Ich bin mir natürlich im klaren darüber, daß ich niemanden überzeugen werde, der nicht schon überzeugt ist. Ich habe dies aus einem sehr egoistischen Grund geschrieben, nämlich um mein Gewissen zu entlasten. Möglicherweise haben wir Verlierer nicht in allem recht, doch davon geht die Welt nicht unter. Das tut sie nur, wenn die Gewinner nicht in allem recht haben.“ Sven Hanuschek

Volker Jehle: Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte. Suhrkamp Taschenbuch; 685 Seiten; 28 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen