: „Ich, eine Altlast?“
Rundfunk und Fernsehen im Osten vor der „Abwicklung“ ■ Von Renate Stinn
Die Einrichtung — neue Wortschöpfung im Einigungsvertrag für den ehemals Deutschen Fernsehfunk, das Funkhaus Berlin und alle Landessender — ist irreführend, denn eingerichtet wurde da nichts. War ja alles schon da. Und das eben ist das Problem. Die Einrichtung wurde eingerichtet, um sie binnen eines Jahres (Stichtag: 31. Dezember 1991) in föderale Strukturen „zu überführen oder aufzulösen“ (Art.36 Einigungsvertrag).
Haupteingang Fernsehen Adlershof. Auf der Suche nach Haus S2 gehe ich durch weites, leeres Gelände. Kein Mensch weit und breit. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Vermisse das bekannte Gewimmel, das endlose Hin und Her von Menschen, vermisse Techniker, Redakteure, Kameraleute, Schauspieler, Regisseure, Angestellte, Maskenbildner. Eine gespenstische Stille zwischen den grauen und blauen großen Studios, nur ab und zu eine traurige Gestalt.
Seit Herbst 1989 wurden ungefähr 3.000 MitarbeiterInnen des Fernsehens entlassen, beim Hörfunk etwa 1.300. Das hat die hier Arbeitenden natürlich nicht gerade motiviert. Ohnehin weiß jeder, daß das alles nur ein kurzes Zwischenspiel ist, am Ende steht die Arbeitslosigkeit. Neben 600 Studiotechnikern, die entlassen werden, stehen weitere 1.500 auf der Abschußliste. Die Fragebogenaktion tut ihr Übriges, die MitarbeiterInnen zu verunsichern.
Wie fühlt sich der Einzelne in dieser Umbruchphase? Peter Kaiser, Schichtleiter der Nachrichtenredaktion Hörfunk, antwortet mit bitterem Humor: „Fragen Sie eine Mumie, die abgewickelt werden soll und dabei genau weiß, daß sie in sich zusammenfällt, wie ihr zumute ist!“ Und traurig lächelnd ergänzt seine Kollegin: „Ich bin 30 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Vierzehn Jahre habe ich diesen Schichtdienst durchgehalten. Jetzt sehe ich im Journalismus für mich keine Zukunft mehr und überlege, ob ich mich für den sozialen Bereich umschulen lassen soll.“
Beim Kinderfernsehen ist die Stimmung gemischt. Regisseur Kurt Schumacher findet sie „gruselig und einer Endzeitstimmung ähnlich“. Seine vier Kolleginnen — man sitzt wegen eines Geburtstages kurz zusammen — protestieren gefühlsbetont. „Ich fühle mich sehr gut“, sagt Bärbel Mollendorf, „wir gehen ins Studio und sagen, vielleicht ist das unsere letzte Produktion, und doch sind wir mit Freude dabei. Es ist auch ein bißchen Galgenhumor dabei, um uns gegenseitig Mut zu machen.“ Die Frauen lachen, sie reden durcheinander, fröhlich, aufgekratzt. Sie lieben ihren Beruf, sie haben immer kämpfen müssen, fühlten sich wie das fünfte Rad am Wagen, hatten schlechtere Technik als andere Redaktionen, aber immer eine große Zustimmung durch die Kinder vor den Bildschirmen. Heute planen sie Sendungen, von denen sie nicht wissen, ob sie jemals produziert werden. Gegen Ende des Gesprächs — der Kaffee ist ausgetrunken, der Optimismus verbraucht — sagt Rita Hatius sehr leise: „Ich denke, die Kinder sind die Leidtragenden der sogenannten Revolution. Sie haben keine Lobby.“ Alle stehen auf und gehen an ihre Arbeit für Spielhaus und 1—2—3 — Allerlei.
Wie schafft man es, trotzdem seine Arbeit zu machen, ein fröhliches Gesicht auf dem Bildschirm, sachliche Nachrichten, Unterhaltungssendungen, Shows, Talks — das Shicksal der „Macher“, ihre Gefühle, Stimmungen gehen niemanden etwas an. „Wir schweben immer zwischen dieser Waage: Verdrängung der persönlichen Probleme und der Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann“, resümiert Hans Göbel, Nachrichtenredakteur im Hörfunk. Da ist sie wieder, die Verdrängung. Erst kürzlich hat man verdrängt, daß man angepaßt bis korrupt war. Nach der Wende schnell vergessen die eventuelle Schuld, die Feigheit, den kleinen und großen Verrat. Heute funktioniert die Verdrängung als neue Lebenshilfe, als Schutzschild vor Resignation und Verzweiflung. Was ist der Grund für diesen unseligen Zyklus?
„Wir machen das staatsfernste Rundfunkprogramm.“
Fernseh- und Hörfunkleute sind Besessene, alle, die Sicht- und Hörbaren und die hinter den Kulissen. Die Arbeit war nie einfach ein Achtstundenjob, das war auch immer Abenteuer, Spannung, eiserne Disziplin, die Summe aller Anstrengungen, gerichtet auf den Moment: Achtung, Sendung, Band ab, Maz läuft. Teamwork. Ineinandergreifen vieler Berufe, Konzentration vieler auf ein Ziel. „Noch nie war Rundfunk so schön“, sagt Götz Schwoche, seit 1967 beim Hörfunk und ohne Hoffnung für die Zukunft. Warum? „Wir machen wahrscheinlich zur Zeit das staatsfernste Rundfunkprogramm, das es jemals gab.“ Ein Interregnum der Ambivalenz. Peter Gütte, Moderator des neuen Mittagsjournals Land und Leute, bringt den Zwiespalt auf den Punkt: „Bei einer neuen Sendereihe ist das berufliche Engagement total. Man denkt nicht an dieses langsame Sterben. Ich weiß, daß hier nichts übrig bleiben wird, und denke manchmal, es würde besser schnell gehen, dieses langsame Sterben ist unerträglich.“ Nach der Sendung sitzt er zusammen mit seinen Gästen, einer großen Bäckerfamilie, an einem langen Tisch im Casino, beherrscht, freundlich.
Tatjana Jury, Redakteurin bei Radio aktuell, geschieden, zwei Kinder, seit November 1989 dabei, sieht ihren Start in diesen wirren Zeiten als Riesenchance: „Ich mußte nicht erst Lehrdienst ableisten, ich wurde sofort hineingeworfen. Lernte das Handwerk in einem Crash-Kurs. Eines habe ich hier gelernt: Wenn ich mich woanders bewerbe, dann nicht schriftlich, dann stehe ich vor der Tür, dann gehe ich den Leuten auf den Geist!“ Die jungen Mitarbeiter, aufgewachsen in der Zeit der Stagnation, der Langeweile, ohne sozialistische Illusionen, beziehen ihr Selbstbewußtsein aus diesem Unbelastetsein und der neuen Freiheit, in der für sie Leistung zählt.
Zu dieser Generation zählt auch die 27jährige Gladys Hannemann, Redakteurin bei Elf 99. Sie gibt sich gelassen und versucht, sich aus dem alltäglichen Gerede herauszuhalten, denn „man kriegt davon Magenschmerzen und wird hochgradig nervös. Mich wird man garantiert nicht rauswerfen können, ich war weder Stasi noch SED. Jedenfalls harre ich aus bis zum bitteren Ende.“
„Ich beneide die Jüngeren; wir waren nur Befehlsempfänger.“
Beim Thema Altlast muß Bärbel Mollendorf, die Kinderredakteurin, lachen: „Ich finde das idiotisch. Ich bin schon älter, aber Altlast? Tut mir leid!“ Abwehr auch im Herzstück des Fernsehen.
Astrid Fischer, seit '69 beim Fernsehen, Schichtleiterin von Aktuell, ehemals Aktuelle Kamera: „In dieser Abteilung wurde die größte Wende vollzogen. Altlasten gibt es hier nicht mehr. Dieses Problem wird von außen hereingetragen, um uns kaputtzumachen.“ Günther Schwanitz, Außenpolitik Hörfunk, seit 39 Jahren im Beruf, vor der Wende Korrespondent in Wien, jetzt Redakteur, begrüßt weltmännisch- konziliant: „Sie wollen eine richtige Altlast sehen? Dann herein mit Ihnen und willkommen!“ Ich sage: „Nein, danke, keine Interesse.“
Trotzdem folgt die übliche Reaktion: eigene Schuldzuweisung und lahme Verteidigung. Aber — da ist dieses Leuchten in den Augen, wenn er über die jetzige Freiheit des Journalismus spricht, die „Kräfte und Ideen freilegt, die eigene Verantwortung, das eigene Können herausfordert. Das ist wunderbar — und schwer. Wir waren nur Befehlsübermittler, Ausführer. Ich beneide die Jüngeren, sie haben alle meine Unterstützung.“ Das kommt aus dem Herzen. Bitter, aber ohne Neid. Abschied und Hoffnung, daß die Jungen den Beruf des Journalisten wieder ehrbar machen, wieder die Schuld der Väter tilgen. Deutsches Dilemma?
Die Einschaltquoten, Hörerbriefe und Anrufe jendenfalls beweisen, daß sowohl die DFF-Länderkette als auch die vier Hörfunkprogramme und diejenigen der Landessender von den Menschen akzeptiert, ja, als unerläßliche Hilfe im Alltag betrachtet werden. Eine neue Infas-Studie soll das positive Ergebnis vom November 1990 noch bestätigen.
Die Angst in den Landessendern
Aber nicht nur in Berlin, auch in den Landessendern, die darauf hoffen, die Keimzelle der zukünftigen föderativen Struktur zu werden, geht die Angst um. Die Politiker wollen alle MitarbeiterInnen entlassen. „Sie können sich ja neu bewerben“, heißt es lapidar. Bevorzugt aber werden — so ausdrücklich gesagt — Journalisten aus den Altbundesländern. Was für die Landessender gilt, gilt möglicherweise auch bald für Adlershof und die Nalepastraße. Und die Einrichtung schweigt. In den Leitungsetagen ist es still geworden. Hat die Dienstanweisung 01, die der Rundfunkbeauftragte Rudolf Mühlfenzl, oberster Boß der Einrichtung, als erstes herausgab und damit den amtierenden Intendanten Michael Albrecht (Fernsehen) und Christoph Singelnstein (Hörfunk) verbot, in der Öffentlichkeit über die Geschicke der Einrichtung zu reden, solche Wirkung? Steht wieder die Anweisung eines Einzelnen über den Interessen der Menschen? Demokratie ist auch, daß Meinungsvielfalt verbreitet wird, nicht nur die des Chefs. Demokratie ist auch, daß die Öffentlichkeit teilnimmt an Problemdiskussionen, an Prozessen, an Entscheidungsfindungen, daß einzelne, viele Einzelne den Mut haben, offensiv ihre Meinung kundzutun. Die Defensive war 40 Jahre lang Domäne der Verlierer. Das ist vorbei. Ist es wirklich vorbei?
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