: Die Poesie des Stempelbuchs
■ Premiere: Prenzelberger Dokumentar-Filmer auf dem Arbeitsamt
Beim Kongreß der Film- und Fernsehschaffenden vor einem Jahr hatte man verbal zumindest noch besonderen Wert darauf gelegt, gerade die Bereiche, die in der Marktwirtschaft nur Stiefkind sind, zu retten. Damals hieß es, der Kinder- und der Dokumentarfilm dürfe nicht untergehen. Inzwischen sieht jedoch vieles ganz anders aus: Dem gesamten künstlerischen Bereich - 620 Mitarbeiter — der DEFA-Dokumentarfilmstudios wurde zum 31.März »mit Bedauern« gekündigt. Während die restlichen 180 Mitarbeiter des bürokratisch geführten Apparats ungerührt weiterarbeiten, gehen Filmer und Kameraleute stempeln.
Anja Baum und Detlef Kuhlbrodt gingen mit.
Freitag, 22. März, 8:30 Uhr. Vor dem Arbeitslosenamt am Prenzlauer Berg stehen zwei Aktivisten, die die 'AAZ‘, die »Antiabwicklungszeitung« verkaufen. Das PDS-Blatt findet zahlreiche zustimmende Abnehmer und Leser.
Freitag sind die Arbeitslosen augenscheinlich schon mit ihren Gedanken im Wochenende. In den vier Fluren, die Montag, Dienstag und Mittwoch noch brechend voll gewesen waren, herrscht eine fast besinnliche Stille. Wie beim Blutspenden im Krankenhaus.
Jochen Wisotzki, Heinz Brinkmann, Peter Voigt, Michael Hallertsch und andere Regisseure der DEFA-Dok(umentar) Filmstudios, kommen zögernd. Brinkmann als erster; Voigt hat eine Stunde verschlafen. Hier werden sie mit der Realität konfrontiert, die sie früher nur aus (ihren eigenen) Filmen kannten. Peter Voigt fühlt sich an Bert Brecht, Ernst Busch und an einen eigenen Film (Ohne Arbeit) erinnert: 1974 hatte er mit westdeutschen Arbeitslosen gedreht. »Damals hatte ich mit den Leuten nicht über Arbeitslosigkeit geredet, sondern über ihre Arbeit. Gewissermaßen also eine verfremdete Sicht auf diesen Komplex.« Jetzt tauchen die Begriffe aus den zwanziger Jahren auch im Osten wieder auf: Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsamt. »Diese Begriffe kennen wir ja nur noch aus Literatur und Film. Die sind sehr poetisiert worden und plötzlich siehst du dich in diese Poesie eingebunden. Plötzlich bist du selbst auf dem Arbeitsamt.« Verrückt sei auch, daß die kapitalistische Wirklichkeit der Marxismus- und Ökonomiestunden von früher, »so völlig fremd war in einer völlig fremden Welt«, meint Wisotzki. Jetzt bestätige sich der Gegenwartsunterricht, meint ein anderer: »Ja, das hat was von einer Reise in die Vergangenheit und die Gegenwart holt uns ein.« Ein wenig unsicher noch gehen die Filmer, die jäh aus ihrer wohlbehüteten Arbeit in die »Poesie« der Arbeitslosigkeit gerissen sind, mit dem Präsens um.
Und ein bißchen wirken sie wie Schüler, die sich von früher kennen und nun in eine fremde Klasse gesetzt worden sind. Man gibt sich die Hand, flüstert von alten Zeiten, steht rauchend im Treppenhaus und registriert das alles mit geübtem Blick: Am Ende des Flurs gibt's eine kleine Spielecke für die Kinder. Heute morgen sind jedoch keine Teppichratten da, die mit Holzautos herumfahren oder die schon etwas zerfledderten Bilderbücher »Haustierkinder« anschauen könnten. Auch kaum Frauen. Die sitzen beratend oder ratlos in den Büros und reden mit arbeitslosen Männern. Einige der braunen Plastikschalensitze sind noch gar nicht fertig ausgepackt, bemerkt Voigt. An den Beinen klebt noch die Pappverpackung.
Die Filmemacher treten aus einer Realität in eine andere. Unsicher vergewissern sie sich gegenseitig, ob sie alle nötigen Papiere dabei haben. Die nächsten Ämtergänge werden durchgespielt. Die DEFA liegt hinter ihnen. Ein Stück Leben ist vorbei. Die zurückgebliebene Studioverwaltung erklärte den Künstler, daß sie jetzt in die »Freischaffenheit entlassen« sind. Das klingt fast, als hätte man ihnen die Freiheit geschenkt. »Und die hoffen auch noch darauf, daß wir so doof sind und sofort wieder anfangen, bei ihnen zu produzieren«, sagt Jochen Wisotzki; freie Mitarbeiter sind allemal billiger als festangestellte Regisseure. Fast trotzig erklären sie, die DEFA sei für sie ab jetzt und für immerdar nur noch »eine Produktionsagentur wie jede andere auch«. Wisotzki und Brinkmann müssen jedoch zumindest einen Film lang noch dort bleiben, wenn sie die Referenzförderung, die sie für ihren preisgekrönten Berlinale-Film »Komm in den Garten« erhalten haben, in Anspruch nehmen wollen. Mit dem derzeitigen DEFA-Konzept kann sich keiner von ihnen anfreunden. »So wie es jetzt ist, frißt der Verwaltungsapparat alles auf.«
Ein ums andere Mal versichern die Filmemacher einander, daß sie nun wirklich arbeitslos seien. Aber ohne Arbeit ist keiner von ihnen. »Ich hab gar keine Zeit hier rumzusitzen«, meint Voigt. Und: »Ich muß ja eigentlich an den Schneidetisch.« Die anderen haben ihre Stoffe im Kopf. Ob sie jemand produzieren, also auch finanzieren will, wissen sie nicht. Eine Filmförderung, wie in den Altbundesländern, ist im Osten noch nicht einmal in Ansätzen vorhanden. »Früher hast du eine Straße gesehen, jetzt ist da nur Nebel, nicht mal die Sicht auf die nächsten paar Meter«, sinniert Peter Voigt. Und: »Wir haben doch gelebt, wie die Prinzen im Kommunismus.« Doch einen vernünftigen Grund die DEFA, wie sie war, zu erhalten, sieht er nicht. Schließlich hatte dort jeder sein Geld gekriegt, ob er gute oder schlechte oder überhaupt keine Filme gemacht hat. Jochen Wisotzki hätte nie gedacht, daß er sich einmal um Geld kümmern muß. Er überlegt, ob er wieder anfängt zu schreiben. Früher hat er mal Filmkritiken gemacht. Vielleicht auch wieder Fotografieren. Die ganze Lebenseinstellung müßte sich ändern. »Wenn man die Westregisseure sieht, kommt man ganz schön ins Grübeln. Da wird Taxi gefahren, dieser oder jener Job gemacht...« Er ahnt, daß das auch produktiv sein kann. Viele werden aber auch an Stoffen arbeiten, zu denen sie eigentlich gar keine Lust haben. Andere werden freischaffend auf der Strecke bleiben. Wenn die Mieten wie angekündigt steigen, werden einige ihre Wohnungen nicht mehr halten können. Wenn es soweit kommen würde, sieht Wisotzki zumindest keinen Grund mehr, in Berlin zu bleiben.
Alles ist kompliziert: Ein Regisseur erzählt im Beratungszimmer, er habe erst die Ankündigung einer Kündigung bekommen, und wird wieder nach Haus geschickt. Dabei hatte er schon arbeitsamttechnisch Verwertbares in der Tasche. Anderen ergeht es besser. »Die Beraterinnen sind so freundlich!« Peter Voigt berichtet von der Frau, der es leid tat, daß sie ihn nicht wird vermitteln können. Der Regisseur dagegen bedauerte die Frau, die tagtäglich und hilflos die gleichen Pobleme entgegennehmen müsse. Und die Frau wiederum wendete ein, daß sie selber arbeitslos gewesen sei und alles sei besser, als arbeitslos zu sein.
Der neuen Wirklichkeit nähern sie sich zunächst (schau)spielerisch und ein bißchen selbstironisch an. Sie sind zwar nun im Heer der Arbeitslosen, doch werden sie damit nicht annähernd soviel Probleme haben, wie die ArbeiterInnen aus den anderen Betrieben.
Etwas nervös will einer immer wieder wissen, wo er denn »stempeln« könne, als bräuchte er einen literarischen Beweis für die neue Wirklichkeit. Am Ende wollten die Regisseure gar ein »Stempelbuch« haben. Damit würden sie dann jeden Monat aufs Amt rennen.
Am Mittwoch, 18 Uhr, laden die Dok-Filmer der DEFA zur »Entlassungsfete« vor die DEFA-Studios, Otto-Nuschke-Straße 32. Unter dem Motto »Wir sind auf der Straße« gibt es Bier, Filme aus 45 Jahren und Dokumentaristen.
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