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„Hoffnungsvolle, aber unklare Perspektive“

Hamburg/Berlin (dpa/taz) — Der sowjetische Präsident Gorbatschow hat in einem heute erscheinenden 'Spiegel‘-Interview ausgeführt, man werde Republiken, die den erneuerten Staatsverband der UdSSR verlassen wollen, nicht daran hindern. Allerdings müsse sich der Auszug aus der Sowjetunion im Rahmen des dafür vorgesehenen Gesetzes vollziehen. Dabei muß sich eine Zweidrittelmehrheit der Bevölkerung in der betreffenden Republik in einem Referendum für einen solchen Schritt entscheiden; sollte dieses positiv ausfallen, tritt eine fünfjährige Übergangsfrist ein, während der Eigentumsfragen zwischen der austrittswilligen Republik und Moskau geregelt werden. Letzten Endes sollten jenen Republiken gegenüber, die sich für einen eigenen Weg entscheiden, Positionen vertreten werden, wie sie Moskau seinerzeit „Osteuropa gegenüber bezogen“ habe, so Gorbatschow.

Mit Blick auf die Volksbefragungen in den baltischen Republiken vom Februar und Anfang März, die jeweils überwältigende Mehrheiten für die Unabhängigkeit erbracht hatten, erklärte Gorbatschow, solche Voten könnten nicht als „Legitimation“ für den „Scheidungsprozeß“ herhalten, dazu müsse man ein „richtiges Referendum“ durchführen.

Von der taz zu dem Gorbatschow- Interview befragt, erläuterte der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des lettischen Parlaments, Mavriks Vulfsons, daß just dieser Modus für die baltischen Republiken inakzeptabel sei: „Wir können nicht aus einer staatlichen Struktur austreten, der wir gar nicht beigetreten sind.“ Vulfsons verwies ferner darauf, daß selbst Moskau unterderhand von demselben Standpunkt ausgehe, indem es Kommissionen benannt habe, die mit den baltischen Republiken über deren Unabhängigkeit verhandeln sollen. Bereits am Dienstag sollen die Gespräche mit Litauen beginnen.

Interessant, so Vulfsons, sei der Zeitpunkt, zu dem die sowjetische Führung sich zu diesem Schritt entschlossen habe: nach dem Fiasko einer versuchten Machtübernahme im Baltikum im Januar, dem Pro-Unabhängigkeits-Votum in Estland, Lettland und Litauen sowie den dürftigen Ergebnissen des Unions-Referendums in diesen Republiken. Insgesamt bezeichnete Vulfsons das von Gorbatschow vorgeschlagene „Osteuropa-Modell“ in Hinblick auf die baltischen Staaten aufgrund der fehlenden Voraussetzungen als eine auf den ersten Blick hoffnungsvolle, letztlich jedoch unklare Perspektive. rob.

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