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Massenproteste gegen Misere

■ Kohl: Bald werden sie erkennen, „es geht voran“/ Bislang Wut über triste Zukunftsaussichten/ In Berlin protestierten 25.000/ Blüm: Fünf Millionen Arbeitslose nicht unmöglich

Berlin/Bonn (afp) — Angesichts der wachsenden Massenproteste in Ostdeutschland haben Politiker aller Parteien am Wochenende den Ernst der Lage unterstrichen und sich für eine nationale Anstrengung zur Überwindung der Krise in den neuen Ländern ausgesprochen. In Berlin und in Bitterfeld demonstrierten erneut Tausende gegen die Arbeitslosigkeit. Für Montag sind in allen großen ostdeutschen Städten erneut Montagsdemonstrationen angekündigt.

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) stellte sich hinter die Demonstranten. Kritik an den jüngsten Massenprotesten wies er entschieden zurück. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) forderte die Ostdeutschen auf, nicht zu verzweifeln, sondern tatkräftig beim Aufbau der neuen Länder mitzumachen. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel bezeichnete die Lage als „dramatisch“.

Proteste gab es auch in Berlin. Rund 25.000 Menschen demonstrierten am Samstag vor der Treuhandanstalt. Sie folgten einem Aufruf der PDS, die mit der Kundgebung eine „Kampagne gegen Massenarbeitslosigkeit und sozialen Niedergang“ eröffnete. Etwa 3.000 Demonstranten protestierten in Wolfen gegen die angekündigten Massenentlassungen im Raum Bitterfeld. Demonstranten und mehrere Redner gaben der Bonner Koalition und der Landesregierung von Sachsen-Anhalt die Schuld an der Wirtschaftsmisere. Die Verantwortlichen, allen voran der Kanzler, sollten sich vor Ort den Betroffenen zu stellen. Kohl will erst nach seinem Osterurlaub in die frühere DDR reisen.

Genscher warnte davor, die Sorgen der Menschen in den neuen Bundesländern nur als deren Probleme zu verstehen. Wenn der jetzige Zustand in den neuen Ländern nicht bald überwunden werde, habe dies Auswirkungen auf Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der gesamten deutschen Wirtschaft und die Stärke der D-Mark. Darüber solle sich niemand täuschen, schrieb Genscher in der 'Mitteldeutschen Zeitung‘. „Wer glaubt, die Demonstrationen abtun zu können mit dem Hinweis, hier seien Demagogen am Werk, oder wer am Arbeits- und Einsatzwillen der Menschen in den neuen Bundesländern zweifelt, der beleidigt die Menschen, die aus Sorge und nicht aus Übermut auf die Straße gehen.“ Blüm verlangte, alles zu tun, um den Zusammenbruch des Ost-Arbeitsmarktes zu verhindern. Eine Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen und Kurzarbeitern sei eine Horrorzahl. Blüm fügte hinzu, auch Horror könne Wirklichkeit werden. Kohl appellierte unterdessen an „Aufbauwillen, Wagemut und Gründergeist“ der Ostdeutschen. „Angst, Mutlosigkeit und Resignation helfen niemandem“, schrieb Kohl in einem Beitrag für die 'Welt am Sonntag‘. Die Menschen in den neuen Ländern bräuchten die Solidarität ihrer westdeutschen Landsleute. „Wir müssen uns gemeinsam auf unsere Tugenden besinnen.“ Innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre könne die Einheit auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich sowie beim Umweltschutz hergestellt werden. „Schon bald werden auch die Menschen, die heute noch mit Sorgen in die Zukunft schauen, erkennen: Es geht vorwärts.“

SPD-Chef Hans-Jochen Vogel bewertete die Lage in den neuen Ländern beim SPD-Landesparteitag in Mecklenburg-Vorpommern am Samstag als „dramatisch“. Manches von dem nationalen Aufbauplan der SPD habe die Bundesregierung inzwischen wenigstens zum Teil übernommen. Entscheidendes bleibe aber noch zu tun. Gleichzeitig hat auch Björn Engholm die Bundesregierung vor Schönfärberei in bezug auf die Verhältnisse in Ostdeutschland gewarnt. Die Bonner Regierung habe durch ihre Versäumnisse eine „Sünde am Menschen“ begangen. Auch Gerhard Baum (FDP) räumte ein, daß die Schwierigkeiten in Ostdeutschland unterschätzt wurden. Die Regelungen im Einigungsvertrag gingen zum Teil „an der Lebenswirklichkeit“ vorbei.

Um die Schwierigkeiten zu beheben, fordert der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse eine „große Umverteilung“, um die Schranken zwischen Ost — von einer Arbeitslosenquote von über 40 Prozent bedroht — und West — florierend — niederzureißen.

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