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Fragmentierung eines Fragments

Achim Freyer vollendet mit „Phaeton — Tragödie in fünf Akten nach einem Fragment des Euripides“ seine Trilogie für das Wiener Burgtheater  ■ Von Dieter Bandhauer

Drei Arbeiten hat Achim Freyer seit 1987 für das Burgtheater verwirklicht. Verantwortlich zeichnete er für Regie, Bühnenbild und Kostüme, doch er kann auch als heimlicher Autor dieser Produktionen bezeichnet werden.

Für das erste Projekt, die Metamorphosen des Ovid oder die Bewegung von den Rändern zur Mitte hin und umgekehrt, deklarierte er sich gemeinsam mit dem Komponisten Dieter Schnebel und dem Dramaturgen Urs Troller als Autor. Der römsiche Dichter Ovid hingegen verschwand im Titel des Stückes, wurde gewissermaßen vom Subjekt ins Objekt verwandelt.

Nicht nur das Spiel mit der Autorenschaft irritierte das Wiener Publikum, auch die Konfrontation mit einem neuen Zeitmaß und der Tatsache, daß Theater mehr sein kann als Sprechtheater, wurde nicht widerspruchslos zur Kenntnis genommen. Freyers Farb- und Bewegungsphantasien, sein Theater, das von Wiederholungen mit kaum wahrnehmbaren Abweichungen, von suggestiver Langsamkeit und Reduktion des Textes auf wenige, ständig wiederkehrende Worte beherrscht ist, teilte das Publikum in zwei Lager. Das Trostlose daran ist, daß seiner Ästhetik — im Unterschied etwa zu der Peter Turrinis — keine lautstarke Auseinandersetzung förderlich ist. Freyers Theater sollte man entweder fern bleiben oder aber darin jene Ruhe finden, die einen in seinem Theaterkosmos versinken läßt.

Achim Freyers zweite Burgtheater-Inszenierung könnte man als die traditionellste bezeichnen — trotzdem er Büchners Woyzeck in einer gemeinsam mit dem Dramaturgen Michael Eberth erstellten Fassung spielte und seiner Bühnensprache radikal unterordnete: Büchners Figuren wurden auf eine steil ansteigende Scheibe gestellt und in einem Maße von ihrer sozialen und historischen Herkunft isoliert, daß sie förmlich wie auf sich selbst zurückgeworfen erschienen.

Gemeinsam war diesen beiden Arbeiten eine Geschlossenheit, in der die fragmentarischen Vorlagen nicht bloß zu schönen Bildern versöhnt, sondern zu einer betörenden Rätselhaftigkeit zusammengefaßt wurden.

Phaethon, die jüngste Produktion Freyers, ist ebenfalls von dieser Rätselhaftigkeit. Doch die von einem Vorspiel eingeleitete, aus fünf — durch Zwischenspiele getrennten — Akten bestehende Tragödie ist befremdlich uneinheitlich, disparat, von Stilbrüchen und Tempowechseln durchzogen, die den fragmentarischen Charakter der Vorlage potenzieren.

Die Vorlage selbst, das Phaethon- Fragment Euripides', ist ein aus nur wenigen Seiten bestehender Text — an dem übrigens schon Goethe einen Versuch einer Wiederherstellung aus Bruchstücken unternommen hat —, der vom Regisseur noch weiter gekürzt, umgestellt und durch eine Textcollage mit Zitaten von Max Ernst, Ludwig Wittgenstein, Artaud u.a. ergänzt wurde. Als Fragmentierung eines Fragments bei gleichzeitiger Ausdehnung zu einem abendfüllenden Stück könnte man diese Arbeitsweise bezeichnen.

Im ersten — Die Klage bezeichneten — Akt liegen die Darsteller verstreut über die dunkle Bühne, können sich nur zu wenigen, sich ständig wiederholenden Worten aufraffen, ihre Stimmen sind in der Dunkelheit kaum zuzuordnen: „O weh mir, wehe!“ klagt Martin Schwab als Merops (der bereits den Woyzeck spielte). „Hört ihr die Jammerrufe, die der König ausstößt“, kommentiert Elisabeth Orth, deren sonore Stimme noch etwas Leben enthält; wie aus einem anderen Leben klingt da das greisen- und gleichzeitig mädchenhaft anmutende Lispeln des zwergenhaften, durch die Beine eines anderen Darstellers zu einem eigenartig sitzenden Wesen ausgedehnten Fritz Hakl, der den Part des Chors übernommen hat. Immer wieder greifen die Sprechenden die Worte ihres Vorredners auf, die wie ein Echo über die Bühne wandern. Zwischen den am Boden Liegenden schreitet Aphrodite (Caroline Koczan), die ihr Kleid wie ein Pfau seine Federn auffächern kann.

Ballo, der zweite Akt, führt uns zu beschwingter Akkordeonmusik eine mit Puppen oder Menschen tanzende Gesellschaft vor, in der Phaethon (Hans Dieter Knebel) zwischen Merops und seiner Mutter (Cornelia Kempers) hin- und herwieselt.

Phaethons große, abstehende Plastikohren erscheinen im dritten Akt, der Katastrophe, wie die Ohrenschützer eines Fluglotsen. Mit dem Oberkörper aus dem Souffleurkasten ragend, dirigiert er mit zwei Leuchtstäben gewissermaßen seinen eigenen Untergang.

Nicht er stürzt vom Himmel, sondern der Bühnenhimmel stürzt über ihm zusammen. Auf vier Etagen, deren Kanten durch Leuchtstoffröhren im völlig schwarzen Raum markiert werden, ziehen hinter Phaethon weiß gekleidete Figuren von links nach rechts über die Bühne; zuerst dicht aufeinander folgend, entstehen dann Lücken in den Reihen, plötzlich marschiert zwischen den Menschen ein losgetrennter Körperteil, geisterhaft werden die Personen in diesem Schwarzen Theater verdinglicht, zu Armen, Beinen, einer Hand oder bloß einem Stock. Doch später beginnen sich auch noch die Ebenen aufzulösen; die Körperteile, ebenso wie die Leuchtstoffröhren, schweben frei im Raum. Phaethon ist längst im aufsteigenden Rauch, im Souffleurkasten verschwunden — blaue und aus dem Hintergrund die Zuschauer blendende Lichter verwandeln die Katastrophe in einen magischen Ort. Freyer — der die ihm am Burgtheater zur Verfügung stehende Technik offensichtlich bis ins letzte studiert hat — entfesselte aber nicht nur einen in Wien noch nie gesehenen Bühnenzauber, sondern ließ in einem Akt bühnentechnischer Aufklärung auch noch die Vorrichtungen, an denen all die Gegenstände aufgehängt waren, wie in Zeitlupe vom Schnürboden stürzen — und abschließend wieder hochfahren.

Nach einem solchen Himmelssturz mit dem nächsten Akt, der Der lange Abend betitelt ist, wieder an die Stimmung des ersten anzuknüpfen, ist schwierig und deutlicher Ausdruck jener bereits konstatierten Inhomogenität. Im fünften Akt wiederum wird das Geschehen auf die von einem roten Vorhang begrenzte Vorderbühne gerückt, in der groteske Figuren an einer langen und schmalen Tafel dem Publikum gegenübersitzen und Das Mahl als aberwitziges Kasperltheater ablaufen lassen.

Freyers Theater läßt sich — wie dies Urs Troller anläßlich der ersten Produktion über seine Lektüre von Ovids Buch Metamorphosen formulierte — nur „fragmentarisch lesen“. Die Bruchstücke, die Einzelheiten interessieren, nicht die Geschichte, die philosophischen Zusammenhänge. So stört es wenig, daß man über die Geschichte des Phaethon — daß dieser nicht Merops' Sohn ist, sondern der des Helios, daß er von diesem erbittet, einmal den Sonnenwagen lenken zu dürfen, und daß dies mit seinem tödlichen Sturz vom Firmament endet — nichts erfährt, es sei denn, man weiß es bereits. Doch die Kenntnis des griechischen Mythos ist nicht Voraussetzung, um in die Mythen Achim Freyers eindringen zu können. Dies bedeutet nicht, sein Theater naiv auf das Visuelle zu begrenzen, aber in seinem Kosmos bleibt man sicherlich nur ein Philosoph, wenn man schweigt, wie dies seine Figuren über weite Strecken so beredt beherrschen.

Ein wenig befremdet es in diesem Zusammenhang, daß Freyer seine drei Burgtheater-Produktionen anläßlich der Phaethon-Inszenierung zur Trilogie zusammenfassen und mit einer tiefsinnigen Erklärung, der etwas Welterklärerisches anhaftet, begründen muß: Thematisierten die Metamorphosen des Ovid das Verhältnis von „Mensch und Gott“, wurde uns im Woyzeck der „Mensch ohne Gott“ vorgeführt; im Phaethon schließlich erscheint der Mensch als Gott.

Einmal abgesehen davon, daß es im Mensch-Gott-Verhältnis auch um das Problem der Autorenschaft geht, wäre die schlichteste Begründung für Freyers Trilogie seine Autorenschaft gewesen. Denn wenn am Umschlag des vom Künstler selbst mit Kritzeleien übersäten Programmbuchs nur „Phaeton“ steht, so ist die Abwesenheit von Euripides' Name kein Ausdruck von geistigem Diebstahl und die Abwesenheit von Freyers Name kein Ausdruck von Bescheidenheit. Denn so mancher Autor verschwindet gern in seinem Werk. Und wer der Autor, und nicht bloß der Regisseur dieser Aufführung ist, wird einem bewußt, wenn sich der Vorhang hebt.

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