: Gaza unter dem Schock der neuen Ausweisungen
Bei den Familien der vier von Israel ausgewiesenen Palästinenser herrscht Trauerstimmung/ Willkürliche Inhaftierungen sind im Gaza-Streifen an der Tagesordnung/ Die Berufung gegen die Ausweisung ist praktisch aussichtslos/ 90 Prozent der Anklagepunkte sind „geheime Verschlußsache“ ■ Aus Gaza Qassem Gidram
Die im israelischen Radio verkündete Ausweisung von vier Palästinensern sprach sich im von Israel besetzten Gaza wie ein Lauffeuer herum. Die Betroffenen, Jamal Abu Jidian, Hisham Dakhlan, Jamal Habal und Muain Musallam stammen allesamt aus dem Jabalia-Flüchtingslager im Gaza-Streifen. Im Gegensatz zu den letzten im Januar ausgewiesenen Aktivisten der islamistischen Bewegung 'Hamas‘ werden diese vier der nationalistischen Fatah-Bewegung zugerechnet. Das israelische Radio kündigte am Montag morgen weitere Ausweisungen an, ohne jedoch Namen zu nennen.
Im Haus von Abu Jidian herrscht Trauerstimmung. Die Nachbarn und Freunde haben sich versammelt, um der Familie ihr Mitgefühl zu zeigen. Schon 1967 wurde Abu Jidian unter der Anklage, der Fatah-Bewegung anzugehören und Waffen besessen zu haben, zu zehn Jahren Haft verurteilt. Seit seiner Rückkehr galt er im Lager eher als unpolitisch. Doch der heute 33jährige wurde seit Beginn der Intifada mehrmals für jeweils einige Monate ins Gefängnis zurückgeschickt.
Nur wenige Wochen vor Beginn des Krieges wurde er freigelassen. Seit Januar lebte er so mit seiner Familie unter der für Wochen im Lager verkündeten Ausgangssperre, ohne jegliche Möglichkeit, das Haus zu verlassen. „In der kurzen Zeit seit Kriegsende hatte er gar keine Zeit, sich an irgendwelchen Aktionen zu beteiligen, selbst wenn er gewollt hätte“, erklärt sein Vater deprimiert. Die Verwandten und Nachbarn stimmen dem zu.
Freitag gegen Mitternacht klopfte das Militär und der Geheimdienst an der Tür Abu Jidians. Nachdem diese zertrümmert war, erklärte der örtlich allseits bekannte Geheimdienstvertreter, daß Abu Jidian in dieser Nacht das letzte Mal abgeholt würde, erzählt die Familie. Was dieser Satz bedeutete, begriffen seine Angehörigen allerdings erst am Sonntag morgen, als das israelische Radio die Ausweisung bekanntgab.
Muain Mussalam ging es ähnlich. Auch er saß zu Anfang der 80er Jahre eine längere Haftstrafe ab. Seit Beginn der Intifada lernte er die israelischen Gefängnismauern mehr von innen als von außen kennen. Meist saß der heute Dreißigjährige für mehrere Monate in Verwaltungshaft (administrative detention), das heißt ohne jeglichen Gerichtsbeschluß und ohne wirkliche Anklage. Ein Vorgang, der beliebig wiederholt werden kann. Beispielsweise im Januar 1991. Per Gerichtsbeschluß wurde damals eine sechsmonatige Verwaltungshaft um zwei Monate gekürzt. Im Auto auf dem Weg nach Hause mit seinem israelischen Anwalt wurde er am nächsten Kontrollpunkt wiederum ohne Gerichtsbeschluß verhaftet und mußte die restlichen zwei Monate absitzen. Als diese Zeit letzten Monat ablief, drückten ihm die Behörden den Beschluß für ein weiteres Jahr Verwaltungshaft in die Haft.
Von der bevorstehenden Ausweisung seines Sohnes erfuhr der Vater von Muain Mussalam am Sonntag morgen. Während sich seine Familie und seine Freunde an die verschiedenen Verwaltungsbeschlüsse und Gefängnisstrafen erinnern, sitzen wir in einem von den starken Regenfällen der letzten Tage durchnäßten Zelt. Bis in die siebziger Jahre hatte hier das Haus der Familie gestanden, bevor es nach der Verhaftung von Muains Bruder auf Beschluß der israelischen Armee als Kollektivstrafe zerstört wurde. Eine beliebte Methode der Behörden, die zwischen Dezember 1987 und Februar 1991 bei 214 Familien im Gaza-Streifen angewandt wurde.
Die Geschichten der beiden anderen von Ausweisung bedrohten Palästinenser klingen ähnlich. Derartige Ausweisungsfälle können auch für die damit befaßten Anwälte zum Trauma werden. Es gibt die Möglichkeit, vor einer Berufungskommission und vor dem höchsten israelischen Gericht Widerspruch einzulegen, erläutert die israelische Anwältin Tamar Peleg. Sie vertritt einen der vier Palästinenser, deren Ausweisung die israelischen Militärbehörden verfügten. Die engagierte Anwältin wird kaum Gelegenheit haben, eine vernünftige Verteidigung auszuarbeiten. 90 Prozent der Anklagepunkte bei Ausweisungen laufen als „geheime Verschlußsache“ und werden ihr so nicht zugänglich sein. Auch der Zeitdruck ist groß. „Laßt uns die Sache schnell zu Ende bringen“, soll der Staatsanwalt bei der letzten Ausweisungswelle im Januar angeblich im Gerichtssal verkündet haben. „Es ist, als ob man gegen einen unsichtbaren Geist kämpft, und man weiß von vorneherein, daß man dem Mandanten nicht helfen kann“, faßt ein in Gaza ansässiger palästinensischer Anwalt seine Frustation zusammen.
Die israelische Anwältin Tamar Peleg übernimmt solche Fälle, weil sie gegen die Ausweisungspolitik Tel Avivs protestieren will. Ausweisungen aus dem eigenen Land widersprechen eindeutig der Genfer Konvention. Wenn ein in Deutschland lebender Deutscher nach Frankreich ausgewiesen würde, bräuchte er sich keine Gedanken machen, seinen Fall jederzeit zu gewinnen. Anders in den von Israel besetzten Gebieten, der Westbank und dem Gaza-Streifen. Seit Beginn der Intifada wurden fast 150 Palästinenser aus ihrem eigenen Land ausgewiesen. Und in der gesamten Geschichte israelischer Ausweisungsbeschlüsse ist nur ein einziger Fall bekannt, bei dem die Berufung Erfolg hatte und der von der Ausweisung bedrohte Palästinenser bleiben durfte.
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