: Vom Nachttisch geräumt: Evaluieren
EVALUIEREN
Wer evaluiert die Evaluierer? Ein kleines Buch, noch im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften erschienen, läßt mich die Frage stellen. Hans-Ulrich Wöhler heißt der Autor. Was er war oder ist, weiß ich nicht. Ich kann noch nicht einmal sein Buch beurteilen. Wöhlers Buch hat den Titel Geschichte der mittelalterlichen Philosophie und trägt den Vermerk: „Als Lehrbuch für die Ausbildung an Universitäten und Hochschulen der DDR anerkannt. Berlin, April 1989“. Der machte mir das Buch interessant. Meine Neugierde schlug nach der Lektüre in Hochachtung um. Es ist meines Wissens das einzige Buch zum Thema, das fast ein Drittel seines Umfanges der islamischen und der jüdischen Philosophie widmet. Der Untertitel nennt sie „wesentliche Voraussetzungen“. Wöhler hat recht. Die mittelalterliche Philosophie ist, darin ist man sich überall einig, ohne die beiden außerchristlichen Traditionen nicht zu verstehen, dennoch ist Wöhler der einzige, der in einem Lehrbuch die entsprechenden Konsequenzen gezogen hat. Was mag sein Evaluierer von Wöhlers Vorgehen halten?
Wer die Rushdie-Debatte verfolgt hat, wird sich daran erinnern, wie ein paar durchgedrehte islamische Fanatiker die Geschichte des Islam für ihre Gewaltphantasien zurechtbogen. Da hieß es, nach islamischem Recht, stünde auf Gottesleugnung und Gotteslästerung die Todesstrafe. Nun, es gibt auch ganz andere islamische Traditionen. WÖhler erinnert auf wenigen Zeilen an Muhammad ibn Zakarija ar-Razi (865-925), einen der bedeutendsten Köpfe nicht nur der Medizingeschichte. Der in der europäischen Tradition als Rhazes geführte Wissenschaftler vertrat die Auffassung, der Mensch solle nur der Vernunft trauen. „Der Glaube an bestimmte Propheten habe die Menschen nur in die Irre geleitet und gegeneinander aufgebracht.“ Ich denke dieser Einsicht ar-Razis ist wenig hinzuzufügen. Die oft vorgetragene, öfter noch nahegelegte, gleichwohl völlig unsinnige Vorstellung, bestimmte Religionen könnten ganzen Populationen ausnahmslos den Verstand rauben, widerlegt Wöhler mit solchen kurzen Erinnerungen aus der Vorgeschichte der Aufklärung. Wir sollten uns freuen darüber und die Evaluierer bei ihm in die Schule schicken.
Hans-Ulrich Wöhler: Geschichte der mittelalterlichen Philosophie , VEB Verlag der Wissenschaften, 234 Seiten, 21,50 DM
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