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Vom Nachttisch geräumt: Erinnerungen

ERINNERUNGEN

Von den Büchern über den Nationalsozialismus ist Eva Sternheim-Peters' Die Zeit der großen Täuschungen eines der wichtigsten. Die 1925 geborene Autorin versucht, ihre heutige Sicht auf die NS-Jahre mit ihren Erinnerungen, ihren damaligen Vorstellungen zu konfrontieren. Kaum ein anderes Buch macht Betrug und Selbstbetrug der Mehrheit der Deutschen so deutlich wie dieses. Es schadet nichts, daß es Erinnerungen aus Paderborn sind, es ist auch kein Fehler, daß die Autorin sich im wesentlichen auf die Erfahrungen ihrer nächsten Umgebung beschränkt. Nein, im Gegenteil, die Übersichtlichkeit des Horizontes ermöglicht ein Verständnis, das die mythologisierenden, personalisierenden literarischen Figuren wie den in letzter Zeit aus gänzlich unerwarteter Quelle wieder vorgeschlagenen „Todestrieb“ von Führer und Gefolgschaft, ganz und gar überflüssig erscheinen läßt. Sicher spielte er in den Mythologien des Systems auch eine Rolle, aber für die Mitläufer waren ganz andere Überlegungen und Triebe wichtig. Das Kapitel Volksgemeinschaft macht plausibel, wie eine ganze Nation dem NS auf den Leim gehen konnte. „Die in der deutschen Geschichte einmalige Mobilisierung der Bevölkerung auf Massenveranstaltungen gilt heute als Zwang, die totalitären Traumergebnisse der Wahlen und Abstimmungen werden als ,plebiszitäre Akklamationen‘ abgetan. Tatsächlich hatten sie mit Meinungsbildung wenig zu tun, umso mehr mit Gefühlen von Stärke, Leidenschaft, Entschlossenheit, Tatkraft und Stolz.“ Den Nazis gelang also, was den demokratischen Regierungen zuvor mißlungen war: den Lebensstandard der breiten Massen der Bevölkerung merklich zu heben und gleichzeitig ihren Stolz zu mobilisieren. Eine wichtige Lektion. Um fatale Wiederholungen zu verhindern, käme es darauf an, diese Verbindung nie aus den Augen zu verlieren. Das Problem der Linken: worauf sollen die Leute stolz sein können? Der Dreh bei den reaktionären Mobilisierungen liegt ja gerade darin, daß die angesprochenen Massen stolz darauf sein können, was sie eh sind: Weiße, Deutsche, Arier, Katholiken, Protestanten etc. Diesen Weg kann die Linke nicht gehen. Welchen Stolz kann sie schüren? Eva Sternheim-Peters erzählt, analysiert, bringt Beispiele, wägt ab. Sie hat keine Botschaft als die von den vielen, kleinen Schritten, von der geduldigen Arbeit der Überzeugung. Wem sie zu bedächtig erscheint, der hat den Umfang der Aufgabe noch nicht verstanden.

Eva Sternheim-Peters: Die Zeit der großen Täuschungen — Mädchenleben im Faschismus , AJZ-Verlag, 481 Seiten, 49 DM

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