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Handkäs mit Musik

Über Hans Magnus Enzensbergers neuen Gedichtband „Zukunftsmusik“  ■ Von Elke Schmitter

Wenn nichts mehr klar ist, greift der Mensch zum Wort, und manchmal greift er daneben. Das rechte Wort zur rechten Zeit ist eine schlechte Erfindung und die sprichwörtliche Fassung unseres naiven Wunsches, das Wort ließe sich auf die Welt applizieren wie ein Aufkleber aufs Auto: Da pappt es dann und meint etwas.

Dies ist zweifelsohne ein Mißverständnis, und die unermüdliche Arbeit der abendländischen Sprach- und Erkenntnisphilosophie hat uns über diese atavistische Gewohnheit des Sprechens rücksichtslos aufgeklärt. Gleichwohl können wir nicht anders, als immer wieder das rechte Wort zu ebensolcher Zeit zu suchen, und allen voran in diesem Bemühen gehen uns die Dichter.

Nun ist die Dichtung nicht immer dem Zeitgeist voraus, und das verlangt ja auch niemand mehr: Romane von gestern, heute gelesen; Ideen von gestern, heute gedichtet. Die große Zeit der Sprachzertrümmerer scheint unwiderruflich dahin; wir wissen zuviel von dem Zusammenhang von Wort mit Propaganda, Propaganda mit Krieg und Krieg mit Ordnung, als daß ein DADA-Gedicht noch eine Bürgerin empören könnte.

Hans Magnus Enzensberger, der 1960 mit dem von ihm herausgegebenen Museum der modernen Poesie weite Räume für die Lyrik geöffnet hat und internationalen Ruhm auch als Poet genießt, tritt in dieser Phase lyrischer Abgeklärtheit mit einem neuen Gedichtband an die Öffentlichkeit. Aus seiner Zukunftsmusik erfahren wir einmal mehr: die Sprache ist ein schwierig Ding, das Denken zieht die Stirne kraus. Man setzt gewisse Zweifel in fallende Zeilen, man sitzt in trockenen, zentralbeheizten Räumen und sinniert, und das geht so:

Das, was du jetzt in der Hand hältst, ist beinahe weiß, / aber nicht ganz; etwas ganz Weißes gibt es nicht

oder auch so:

Denn in Wirklichkeit steht die Wirklichkeit Kopf / auch dein Kopf auch das Kino in deinem Kopf / Woher weißt du ob sich das Auge bewegt und das Bild steht still / oder das Auge steht still und das Bild bewegt sich?

Ja, das sind ewige Fragen.

Man kann Mallarmés Diktum, Gedichte seien eben nicht aus Ideen, sondern aus Worten gemacht, natürlich widersprechen — aber eine gewisse Neigung zur Sprache nicht nur als Mittel zum Zweck ist bei der Verfertigung von Lyrik sicherlich hilfreich.

Es gibt eine Poesie, die den Kopf darauf stößt, daß unsere Sprache auf einem Mißverständnis beruht — dem Mißverständnis der Applikation, mit dem wir aufwachsen, weil die Mutter auf ein Ding zeigt und sagt: „Tisch“ und wir nachsagen: „Tisch“, als gehöre dieses Wort dem Ding da zu. Diese Art von Lyrik stößt uns auf das Mißverständnis mit ihrem eigenen Körper Sprache, der verzerrt, verbogen und dennoch lebendig ist — lebendiger jedenfalls als unser tägliches Vokabular, das, rechtwinklig zugerichtet, den Dingen einen Namen gibt und den Namen Dinge.

Diese Art von Lyrik, die das Material des Denkens selbst zum Thema macht, ist Enzensberger Sache nicht. Er geht einen glatteren Weg, um zu zeigen, daß alles, nicht wahr, um ein gewaltig Geringeres komplizierter ist, als Hänschen Schmidt das immer angenommen hat:

(Nur so.) (Genau.)

(Das ist es ja.) (Wenn es sonst nichts ist.)

Seine Themen sind die alten der Erkenntnistheorie: ob wir das, was wir sehen, nicht träumen, ob unser Hirn sich denken kann und wie Sprache und Welt verknüpft sind — gewissermaßen „anthropologische Konstanten“ also.

Es gibt nicht wenige Autoren, die sich an diesen Mauern der Erkenntnis die Köpfe blutig gestoßen haben, und ihren Sprachen merkt man das an, auch wenn sie keine Lyriker waren: Büchner, Kierkegaard, Kleist. Da sind die Sätze so kantig, daß man sich lesend schneidet, da ist der Zweifel Tumult und die Ohnmacht des Kopfes ein Furor, der zum Tode führt. Und es ist wohl kein Zufall, daß Lyrik zur Erkenntniskritik wird bei jenen Dichtern, die Sprache selbst in Zweifel ziehen und so verarbeiten, daß alle Sicherheiten verloren gehen: Arp, Mayröcker, Jandl.

Enzensberger bleibt bei seinen Sicherheiten und läßt die alten Fragen der Logik noch einmal zu einer Litanei gerinnen, die er auf Zeilennorm bringt:

A.Sie haben gesagt: „Dieser Satz ist sinnlos.“

B.Aber nur in diesem Gedicht.

A.Sie haben ferner gesagt: „Der Satz ,Dieser Satz ist sinnlos.‘ / ist nicht sinnlos.“

B.Damit meine ich folgendes: Entweder der Satz „Dieser Satz ist sinnlos“ / ist richtig, dann ist der Satz „,Dieser Satz ist sinnlos‘ / ist sinnlos“ falsch, oder umgekehrt.

Und alle Kreter lügen, sagt der Kreter. Lügt nun der Kreter? Und macht Enzensberger Lyrik? Unabweisbar ist das Denken kompliziert, und wir sind uns mit allen vorangegangenen Generationen darin einig, daß es immer komplizierter wird. Aber was die Gedichtform dieser Unabweisbarkeit betrifft: So in etwa, so wie Enzensbergers „(Eigentlich.) (Eigentlich nicht.)“ stelle ich mir das frankfurter Leibgericht „Handkäs mit Musik“ als Lyrik vor, ein munteres Bekenntnis der akademischen Ratlosigkeit: „Ich bade in einem Gewitter / von Unwissenheit. Erfrischend. / Vom Sein des Seienden / kann man das kaum behaupten.“

Es bleibt der Kalauer, der den Worten nachstellt, mit denen sich soviel machen läßt:

Er macht sich auf die Beine, ans Werk, / ein Macher, der Eindruck macht, Abitur, / Fortschritte, Mist, Krach, Kohle, / ein Vermögen macht er, macht es flüssig ...

In diesem Gedicht, das 37 Zeilen und 71 Spielarten dieses Wortes umfaßt, das immer herhalten muß, wenn uns Genaueres beschämt, kommt die groß geschriebene Version nicht vor: wenn alle Rechnungen bis auf die mit der Vergänglichkeit beglichen sind, spielt auch die Macht keine Rolle mehr. (Was beiläufig die Frage aufwirft, ob es diese oder eine ästhetische Bedenkenlosigkeit war, die Enzensberger eingab, seinem Freunde Gaston Salvatore den gutdotierten Kleist-Preis zu verleihen. Gemessen an nicht wenigen seiner Gedichte ist nunmehr auch letzteres denkbar.)

Enzensberger zweifelt nicht mehr: er wundert sich nur noch. Es ist dieses leichte, trockene, flanierende Wundern eines, der sich müde gedacht und gezweifelt hat, dem es auf die Antworten nicht mehr ankommt, weil sich mit dem Spiel der Fragen doch gut leben läßt. Das vielbeschworene postmoderne Bewußtsein, das, leicht abgehangen, sich selber Genüge tut vor, nach und statt jeder Erfahrung: Hier hat es seine lyrische Form gefunden, behaglich gebettet ins Bewußtsein seiner selbst.

Die Genügsamkeit mag mit der Tatsache zusammenhängen, daß die Antworten, wo sie gegeben wurden, die Fragen selbst zu blamieren scheinen, wie im Falle der Alten Revolution:

Ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. / Die alten Blutflecken sind noch da, im Museum. / Jahrzehnte, die sich totstellen.

Engagement ist keine für die Lyrik relevante Kategorie, wohl aber die Notwendigkeit der Form. Aus einer Haltung des interesselosen Wohlgefallens läßt sich wohlfeile Prosa fabrizieren (und die Buchhandlungen sind voll davon), weil dieses müßige Bewußtsein an die Form nur einen Anspruch stellt: den der höchsten Anpassungsfähigkeit.

Der prosaische Sprachstrom der achtziger Jahre, der zwischen Beobachtung und Erfahrung, Eindruck und Interpretation nicht mehr unterscheidet, der den riskanten Abgrund zwischen der Welt im Kopf und jener draußen friedlich narzißtisch mit Sätzen füllt, bezieht sich auf jene Erfahrung, von der auch Enzensberger zehrt: Wer gar nichts macht, der macht auch nichts verkehrt. Damit wird am wenigsten Blut vergossen, und es hat auch seine Reize, „fallen der Geschichte die Augen zu“.

Auch diese Einsicht ist, wie die vergeblichen der Erkenntnistheorie, eine klassische der abendländischen Literatur, so hat Brecht es schon auf den Begriff gebracht:

Man sollte nicht zu kritisch sein. / Zwischen ja und nein / ist der Unterschied nicht so groß. / Das Schreiben auf weißes Papier / Ist eine gute Sache, auch / Schlafen und abends essen. / (...) Ach / Wer von einem Sternenhimmel eine / Vorstellung hat / Der / Könnte eigentlich sein Maul halten.

Enzensberger findet, so lange er auch sucht, doch nur die eigenen Gedanken in den Köpfen anderer, und so entgleitet ihm die Beobachtung:

Auch dort an der Ampel der Ontologe / mit seinem Stift, seinem Forschungsauftrag, / der vergeblich nach einem Ich sucht, / das gestutzt hätte vor dem Nicht-Ich, / dem Geldautomaten ...

Dieser Ontologe ist so wahrscheinlich wie „Am Potsdamer Platz... die Penner, die da“ grübeln über „den Doppelsinn von Sein und Seinsverständnis“ — und damit natürlich all jene narzißtisch kränken, die dieses Grübeln für sich selbst gepachtet hatten. Die sozialdemokratische Bildungswelle, deren Wogen jetzt über uns zusammenschlagen, hat die Skepsis wieder geadelt: Wo das Wissen inflationiert, wo schon „Pilgerscharen / in der Fußgängerzone“ gesichtet werden, „auf der Suche nach Identität / und Südfrüchten“, da bleibt nur noch das leise, diskrete Wundern, auf Du und Du mit dem Ursprung und Hegel: „Ursuppe, hast du dir davon / etwas träumen lassen? / Was hast du dir, Weltgeist, / dabei gedacht?“

Gedichte schreiben ist immer Erfüllung einer Notdurft, im Regelfall auch umgekehrt notdürftige Erfüllung. Wenn diese Notdurft eine emotionale ist, haben die Autoren, unabhängig vom Ergebnis, zumindest die Anteilnahme der Leser für sich — davon zehren alle bundesdeutschen Schülerzeitungen wie auch Hilde Domin. Wem es aber um Erkenntnis zu tun ist, dem bleiben nur zwei Wege offen: die Zertrümmerung des Materials oder seine subtile Collage, die Neuerfindung der Sprache oder die Pointe des ganz anderen im längst schon Gedachten. Enzensberger hat sich für die Pointe entschieden, doch seinen Ideen fehlt sie, die haben ihre Halbwertzeit schon überschritten und dämmern dem Zerfall entgegen: die Täuschung des Augenscheins, die Grenzen der Logik, die Müdigkeit der Geschichte, die Verletzbarkeit des limbischen Systems, das heitere Wunder Entropie.

Wenn einem soviel Altes wird beschert, dann wäre das schon ein paar neue Worte wert. Enzensberger findet die just da, wo er kein akademisches Ziel verfolgt, nicht in die Köpfe anderer hinein denkt und alle Programme beiseiteläßt. Das Gedicht Vierte Symphonie. Coliseu dos Recreios. Lissabon beginnt mit einer wunderbaren Zeile: „Herztöne wie Kuhglocken, die sich entfernen.“ (und endet doch wieder mit dem Jahrhundert).

Es gibt Metaphern, die eine Notwendigkeit für sich haben, weil sie einen Längsschnitt der Wahrnehmung legen, wo es zuvor nur den Querschnitt des Wissens gab; auch bei Enzensberger finden sie sich, vereinzelt. Ansonsten teilt sich eine müde, segnende Geste mit, die nichts mehr zeigen will als das, was wir alle schon wissen.

Der Band schließt mit dem Gedicht, das ihm den Titel gab: Zukunftsmusik, und endet:

War nicht,

ist nicht für uns da,

ist nie dagewesen,

ist nie da,

ist nie.

Aus der Vorschule der Erkenntnis also, mit der Milde einer sich bräunlich färbenden Birne. So schließlich muß auch er sich fügen, den abertausend toten Worten seines noch hinzuzufügen.

Hans Magnus Enzensberger: Zukunftsmusik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 120 Seiten, 25,—DM

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