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Es war einmal kein Märchen

■ Standesgemäß gewann der Bundesligist Werder Bremen beim unterklassigen Hessen Kassel mit 2:0 Mehr als 25.000 hessische Zuschauer warteten vergeblich auf ein neues Kapitel der Fußballsagen

Kassel (taz) — Nein, Sagen und Märchen sind aus einem anderen Stoff gestrickt. Arm schlägt reich, klein neckt groß. Auch im alten Testament, das freilich nicht als Märchenbuch angeführt werden soll, findet man den Sieg des Unterlegenen gegen den Übermächtigen: Mini- David kippt Maxi-Goliath mit einer Schleuder aus den Latschen. Aber im Fußball, da geht es fast immer zu wie im richtigen Leben: Die Bonzen prügeln die Bengel.

Listig plante der KSV Hessen Kassel einen Lausbubenstreich gegen Werder Bremen, doch der Bundesligist watschte den Oberligisten wie einen frechgewordenenen Primaner. Und das 2:0 im Pokal-Viertelfinale fiel noch milde aus. Die hessischen Möchtegern-Beinsteller waren in der Pokalrealität nur brave Statisten. Märchenhaft war höchstens, was ihr Keeper in seinem „rechteckigen Metallgestänge mit Fischernetz“ (diese Metapher für das Tor gebrauchte kürzlich der Lyriker Thomas Häßler) zu bieten hatte. Zauberer Zoran Zeljko hexte so gut es ging, in der zweiten Hälfte ließen seine magischen Fäuste sogar Borowkas Elfer abblitzen. Zweimal aber fand er seine Meister: In der 32. Minute verwandelte Uwe Harttgen eine Ecke zum 0:1, nicht einmal 180 Sekunden später tat Frank Neubarth gleiches mit einer Flanke — 0:2. Hochverdient für die hochüberlegenen Gäste.

Zeljkos Pendant Oliver Reck hatte seine erste Turnübung erst nach 36 Minuten zu absolvieren, als er einen Querschläger seines Liberos Rune Bratseth vor der Berührung mit dem Fischernetz bewahrte. Ansonsten konnte Werders Torwart lange auf die Kasselaner warten. „De Hesse, de kamen net“, und eigentlich hätte man das Spielfeld halbieren und in Bremens Hälfte Kartoffeln anpflanzen können.

Die armen Zuschauer mit all ihren zerstörten Hoffnungen. 25.300 hatten das Kartenkontingent bis zum letzten Ticket geplündert, sorgten für Volksfeststimmung im und ums Aue-Stadion herum — und dann präsentierten sich die Kasselkicker so sagenhaft schlapp. Brot und Spiele ohne Biß. Nur Trainer Hans-Ullrich Thomale (vormals Lokomotive Leipzig) und die Regisseurdiva Paul Koutsoliakos (ehedem Olympiakos Piräus) zeigten sich die Zähne. Sie zankten sich, worauf der FNL-Import den stolzen Griechensproß in der 57. Minute auf die Reservebank beorderte. Frechheit, Majestätsbeleidigung. Im Märchen wäre der dreiste Trainer zum Hofnarren degradiert worden.

Bremens Coach Otto, der Pokalzweite (1989 und 1990 bekanntlich im Finale gescheitert), hatte seinen Auftritt später bei den Mainzelmännchen im Sportstudio. Dort sah er sich selbst in einer Rückblende, in der er seine früheren Düsseldorfer Spieler als „balltretende Beamte“ bezeichnet hatte: sauber, ordentlich, fair, korrekt. Staatsdiener sollten aber außerdem folgenden Charakterzug haben: Sie tun nur das, was sie unbedingt müssen, darüber hinaus aber gar nichts.

Diese Mentalität machten sich die Werderaner in der zweiten Halbzeit zu eigen — eingedenk eines sicheren Vorsprungs gegen zahme Lausbuben. Als Schiri Klug pünktlich nach 90 Minuten das runde Arbeitsgerät einkassierte, die Torhüter die Handschuhe und die Feldspieler die Stutzen fallen ließen, da sangen die Bremer Fans freudetrunken: „Berlin, Berlin — wir fahren nach Berlin.“ Kassels Anhänger dachten eher an die Meisterschaft, wo der KSV immerhin Erster ist: „Nie mehr Oberliga“, grölten sie. Mit der Leistung vom Ostersamstag führt der Weg der Hessenkicker aber kaum nach Hannover oder Saarbrücken in die zweite Bundes-, sondern eher zum SC Villingen in die Landesliga.

Erschreckend einsatzbereit zeigten sich allerdings Fußballrowdies aus Kassel und Bremen, die sich gründlich boxten und die Polizei vor große Probleme stellten: 71 vorläufig Verhaftete paßten kaum in die bereitgestellten Mannschaftswagen. Bei einer Messerstecherei wurde ein Fan krankenhausreif verletzt. Mehrere Hundertschaften konnten den randalierenden Mob nicht bremsen.

Otto Rehhagel, der sich von der auslosenden Fußballfee eigentlich ein Halbfinale gegen Freund Willibald Kremers Meidericher SV aus Duisburg gewünscht hatte, fährt jetzt nach Frankfurt zur Eintracht. Allen eine gute Reise wünscht der Sepp.

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