piwik no script img

Nicht schon wieder aus Angst den Mund halten

■ Der Erfurter Probst Dr. Heino Faske—von der SED gefürchtet, von der CDU in schwarzen Listen geführt

Erfurt. Probst Dr. Heino Falke resümierte und analysierte die Lage seit dem Herbst 1989: „Ich spreche zu Ihnen, weil ich Ihnen sagen will, daß die Kirche auf Ihrer Seite steht. Diese Demo der 80.000 ist eine Ermutigung und wir brauchen sie. Denn im Land geht die Resignation um. Arbeitslosigkeit kann entmutigen, isolieren und mürbe machen. Das Vertrauen der Mehrheit des Volkes ist kaputtgemacht worden mit Wahlversprechen, von denen Politiker vorher wußten, daß sie nicht einzuhalten sind. Rechtsunsicherheit macht sich breit, weil man bei heutigen Gesetzesänderungen nicht mehr weiß, worauf man sich verlassen kann. Die Treuhand entscheidet zentralistisch über das Schicksal von 100 Tausenden ohne jegliche demokratische Kontrolle. Alte Seilschaften haben sich behauptet und die Funktionäre haben sich selbst bedient mit sicheren Posten. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sieht sich wirtschaftlichen Entwicklungen ausgeliefert, die sie nicht verstehen können und sie in Unsicherheit und Angst stürzen. Es ist allerhöchste Zeit, das unsere Politiker das Gespräch mit der Bevölkerung suchen und neues Vertrauen aufgebaut wird. Die Demokratie ist in Gefahr und die soziale Gerechtigkeit steht auf dem Spiel. Es ist unsozial, daß das Gesundheitswesen Hals über Kopf umgebaut wird und dabei der Rentabilitätspunkt regiert und nicht die Sorge um den Patienten. Das soziale Netz ist eine gute Sache, aber wirklich sozial wird es erst, wenn so wenig wie möglich Menschen in dieses Netz fallen müssen. Das Recht auf Arbeit ist ein Menschenrecht und verlangt die beschäftigungsorientierte Wirtschaft. Schließlich steht in unserem Lande die Menschlichkeit auf dem Spiel. Heute sprach ich wieder mit einem Kreis arbeitsloser Frauen. Es kommt vor, daß beide Elternteile arbeitslos sind und der Sohn Schulabgänger ist und keine Lehrstelle hat. Berichte vom erfolglosen Kampf um Teilarbeitszeit, von Arbeitslosen über 40, die das Selbstbewußtsein verlieren, von deprimierenden Erfahrungen auf den Ämtern und wachsende Aggressivität nicht nur unter den Jugendlichen häufen sich. Wir sprachen von den ausländischen MitbürgerInnen unter uns, die noch mehr Existenzangst haben und denen wir die Menschlichkeit schulden, die wir für uns selbst erwarten. Wird das alles in seinem ganzen Gewicht bedacht? Da, wo man darüber nachdenkt und nachdenken muß, ob sich Betriebe rechnen? Die Frauengruppe trifft sich wöchentlich. Die Frauen helfen sich gegenseitig, für ihre Rechte zu kämpfen.

Darum geht es jetzt nicht, sich in die eigene Wohnung zu verkriechen, nicht schon wieder aus Angst den Mund zu halten. Es gilt jetzt zu lernen, um die eigenen Rechte zu kämpfen. Dafür erinnern wir uns an die Demos im Herbst 89. Wir haben viel bewegt, aber ohne Gewalt, und so soll es auch jetzt sein. Kämpfen, aber ohne Gewalt. Nicht gegeneinander, wie Feinde, sondern miteinander, dazu wollen wir uns gegenseitig ermutigen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen