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Schön faul, schön cool, schön eigen ...

■ Die Wiener Straße in Kreuzberg: Ein Boulevard dreht Däumchen

Er schwamm im Geld. Was er anfaßte, verwandelte sich in Thalerchen — auf dem Papier. Zeitgenossen schätzten den unermeßlichen Reichtum des Dr. Bethel Henry Strousberg auf die damals gigantische Summe von 30 Millionen Thaler. Einen Teil davon hatte er an der Wiener Straße mit dem Bau des Görlitzer Bahnhofs (1866-68) und der dazugehörenden Eisenbahnlinie in Richtung Spreewald und Schlesien verdient. Doch der preußische Rockefeller — gebürtiger Ostpreuße, den es über London und die USA 1861 nach Berlin verschlagen hatte — erlebte schon nach anderthalb Jahrzehnten Höhenflug sein Waterloo: sein größtes Finanzabenteuer, der Bau der rumänischen Staatsbahnen, ließ sein papierenes Millionenimperium wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen. Arm und einsam verstarb der schillernde Großspekulant 1884.

Wer heute in die Wiener Straße kommt, kann sich die Bahnhofsviertel-Hektik früherer Jahre nicht mehr vorstellen. 1930 etwa ratterten, bimmelten und quietschten pausenlos Straßenbahnen vorbei: Die Nummern 2, 4, 9, 44, 55, 63, 92, 93 und 191. Die Wiener war wichtig. Nun herrscht Ruhe. Der Bahnhof wurde im Krieg zerbombt, 1976 endgültig abgerissen und inzwischen durch das Spreewald-Hallenbad ersetzt.

Niemand wollte hierher, keine Bank, kein Kaufhaus, kein Supermarkt, keine Kettenläden. Anders als die berühmte benachbarte »O-Straße« wurde die Wiener kein Anziehungspunkt für Touristen, kein Symbol fürs kämpferische Kreuzberg und deshalb auch kein alternativer Boutiquen-, Buchladen- und Galerie-Boulevard. Die Wiener blieb einfach ein träger Zustand ohne Anspruch.

Sie ist Berlins schönste Straße — subjektiv gesehen. Denn sie ist streß- und herrschaftsfrei: Niemand dominiert hier, nicht die zahlreichen türkischen Geschäfte und Bewohner, nicht kleinbürgerlicher deutscher Mief. Aber auch nicht alternativ-betuliche Kreuzberger Projektmeierei oder dogmatische Verbissenheit ins Schweinesystem bestimmen ihre Atmosphäre. Aber alle sind sie da. Und ganz viele, die in keine Schublade passen.

Nachmittags und am frühen Abend kommt hier Leben auf. Im eisigen Wasser des Spreewald-Bades, unter dem merkwürdigen Lächeln der Jungfrau Maria und des gegenüber hängenden Bildes von Heinz Rühmann in der Madonna- Bar, unter den Scheren der Haareschneider im schrägen Kaiserschnitt-Frisörladen. Wenn man gar nichts zu tun hat, kann man von einem lauwarmen Milchcafe im Morena aus edel aufgemotzte türkische Brautpaare beim Fotografen nebenan beobachten oder den ständig ausrückenden Löschzügen der Feuerwache hinterhergucken. Oder Pommes im Schwimmbad-Café essen gehen, und danach mit Hund und Rad über die künstlichen Hügel des Görlitzer Parks jagen. Oder geile Löcherjeans anprobieren im Klamottenkeller von Pontifex. Und hinterher mit gröhlenden Punks einen Hans-Albers-Schinken im winzigen „fsk“-Kino angucken. Wahlweise kann man aber auch bei Blues und bläulichem Neonlicht die Liebeskrisen der ewig Neunundzwanzigjährigen in der wunderschönen Minibar belauschen. Klar: Die Folge-Drinks im Madonna, Panama, im Casino, im Wiener Blut und wie die Trinkhallen alle heißen, gehören unbedingt dazu. Die Wiener ist eine Barmeile — aber eine ohne französisch-italienisches Getue, ohne Design und ohne orthodoxe linke Öko-Gesinnung. Wer schnelle, zuvorkommende Bedienung und dezent eingestellte Musik liebt, sollte schnell mit der Hochbahn wieder entschwinden. Fundamentalistisch beschränkt man sich in den meisten Bars aufs Nötigste, also überwiegend aufs Flüssige. Schön sind hier nur die Menschen. Schön faul, schön cool, schön eigen. Thomas Kuppinger

Die Serie wird Samstag fortgesetzt. Es geht dann um die August-Straße in Berlin-Ost.

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