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Warnung vor einem Anfang

■ Der erste Teil aus Rivettes 13-Stunden-Film „Out 1 — Noli me tangere“ läuft um 22.45 Uhr in West 3

Schopenhauer leistete sich einmal, in der Vorrede zu einem sechzehnhundertseitigen Buch, eine wirklich grandiose Unverschämtheit: Der Leser solle dieses Buch entweder mindestens zweimal lesen oder es gleich aus der Hand legen. Gewisse — natürlich sehr sehr seltene — große Entwürfe, zum Beispiel Prousts Recherche, die Romane von Thomas Mann oder Jacques Rivettes Out 1, schaffen eine Unendlichkeit, für die der schiere Umfang zwar keine hinreichende, aber doch notwendige Bedingung ist. Da muß man erst mal durch — irgendwann will man sowieso nichts anderes mehr —, am Ende weiß man mehr, fühlt sich aber gewissermaßen jetzt erst für den Anfang qualifiziert und hat deshalb Lust, noch einmal von vorne zu beginnen. Das sollte man dann auch unbedingt tun. Denn Schopenhauer hat Recht: Nur wegen dieser Unendlichkeit, nur weil sie einem erlauben, dieselbe Erfahrung mit klügerem Kopf noch einmal zu machen, sind die großen Entwürfe der Kunst soviel wahrer, besser, schöner als das bekanntermaßen notorisch eindimensionale und endliche Leben. Bei Out1 heißt die praktische Konsequenz: Videorecorder einschalten!

Schon weil die erste der acht im Wochenabstand gezeigten Episoden die Zuschauer nicht gerade an die Hand nimmt. Im Gegenteil: Den Widerstand, den man zu Anfang eines so monumentalen Werks empfindet, hat Rivette nicht gemildert, sondern — wie Schopenhauer — in einer Art selbstmörderischer Dramaturgie geradezu überspitzt. Handlung gibt es nicht — die erste Episode ist noch reines, sich selbst genügendes Spektakel. Rein auch, weil es gewissermaßen noch gar nicht für Zuschauer bestimmt ist: Zwei Theatergruppen proben unabhängig voneinander zwei Stücke von Aischylos, die eine eher mit tänzerischen, die andere mit radikalen Selbsterfahrungstechniken.

Hineingeschnitten in die Improvisationen sind kurze Einstellungen, die zwei Außenseiter vorführen: Ein Taubstummer (Jean Pierre Léaud) zieht durch Pariser Cafés, legt Schicksalsbotschaften auf die Tische und erpreßt mit nervenzerreißendem Mundharmonikaspiel einen Obolus von den Gästen. Und eine junge Bohémienne (die wunderbare, betörende, einzige Juliet Berto) zieht durch andere Cafés und geht fremde Männer um Geld an. Noch ist alles unverbunden.

Im nachhinein aber, vom Ende her betrachtet, wenn die Beziehungen zwischen den Personen und Gruppen bekannt und dadurch nur um so rätselhafter sind, wird man entdecken, daß diese erste Episode voller Anspielungen auf Späteres steckt, die man beim ersten Sehen gar nicht wahrnehmen kann. Sie wird auch auf eine paradoxe Weise als Erinnerung an ein fernes Glück erscheinen. Denn die Gruppen, auch die geheimnisvolle „Gruppe der 13“, werden zerfallen, die Bohémienne wird erschossen werden, der Mundharmonikaspieler nach einem Kommunikationsversuch in seine autistische Randexistenz zurückkehren. Das Glück wird ihnen allen abhanden kommen und ganz auf den Zuschauer übergehen, der im Laufe des Films nur noch eines fürchten wird: daß diese flüchtige und riesenhafte Geste, diese Flaschenpost aus einer lange vergangenen Zeit, die einmal so frisch und neu gewesen sein muß, jemals ein Ende haben könnte.

Sechs Monate lang hat Rivette mit den „besten Schauspielern des französischen Autorenkinos“ (Eric Rohmer) improvisiert, sechs Wochen lang wurde im Sommer 1970 gedreht, sechs Monate dauerte die Montage des Films, und dreimal wurde die lange Originalversion bis heute gezeigt: 1971 in Le Havre, 1990 in La Baule und vor sechs Wochen auf der Berlinale. Jetzt kommt sie zum ersten Mal ins Fernsehen. „Das Leben ist kurz“, schreibt Schopenhauer, „und die Wahrheit wirkt ferne und lebt lange: sagen wir die Wahrheit.“ Thierry Chervel

Out 1 — Noli me tangere, von Jacques Rivette, WDR 3, 22.45 Uhr.

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