Singin' in the Rain

Ein Theaterabend in Potsdam: Christoph Hein und Samuel Beckett nebeneinander gestellt  ■ Anette Reber

Der Regen tropft durch das kaputte Dach des Tempels, in dem AhQ und Wang eingeschlossen sind. Eine goldleuchtende Dame singt aus dem Reifrock Opernarien, rein und klar. Hinter ihr, auf der Feuertür der Bühne, prangt eine gigantische Ikone, Mutter-Maria- Ultramarin mit dem Jesus-Kind.

Bernd Weißig stellt Heins AhQ und Becketts Katastrophe gegenüber. Oder nebeneinander. AhQ, Wang und ein Straßenmusikant (vom Regisseur selbst präsentiert) begrüßen den verlegenen Zuschauer schon im Foyer. Da liegen sie auf Matratzen in der Ecke, angegammelt, verlumpt, zuckeln mit Rucksack und halbaggressivem Blick durch das weinglasschwenkende Publikum. Heißt: das Problem ist unter uns, bald nicht mehr nur am Bahnhof Zoo, sondern auch hinter den Hecken von Sanssouci.

Die unkaschierte, nackte Bühne in der Zimmerstraße ähnelt eher einem Obdachlosenasyl denn einem Tempel. Weißig hat den Raum und die Figurengruppe weit geöffnet. Hier treten alle Theatersparten auf, Tänzerin, Korrepetitor, Sänger, Inspizient. Theater als Welt, ein altes Bild, aber deshalb nicht weniger assoziationsreich. Die Verbindung zu dem Beckett-Stück ergibt sich aus dieser konzeptionellen Überlegung.

Stück I: AhQ und Wang wohnen in einem Tempel, dessen Dach sie eigentlich reparieren sollten. Huis- clos. AhQ und Wang, mit Lenin- Bart, reden über die Revolution, die höchstwahrscheinlich ihre miese Situation verbessern wird.

Das Wort „Anarchie“ wird als Droge eingesetzt. Ein Tempelwächter quält sie. Maske, der Dorfpolizist, in Potsdam als Neffe des Phantoms aus der Oper ausgestattet, schlägt sie. Er ist der willfährige Handlanger des Dorfobersten, des gnädigen Herren. Der verteilt Strafen sehr freigiebig.

Aber AhQs und Wangs tatsächlicher Gegenspieler ist die Zeit. Die vergeht. Immer wieder ist es Donnerstag. Die kleine Nonne kommt und bringt Milchsuppe für die Armen. Sie wird das erste Opfer der Isolation und von dem unter sexuellem Hochdruck stehenden AhQ zu Tode „gepudert“.

Und die Zeit vergeht. „Talkin' 'bout a revolution.“ Nichts passiert. AhQ unternimmt einen Raubzug in die Stadt, bei dem er einen Stereo- Recorder und einen Satz Pin-up-Dias erobert hat, die unter dem besoffener werdenden Gejohle von Maske und Tempelwächter angestaunt werden. Wang liest. AhQ stiehlt. So stehen sich Theorie und Praxis der revolutionären Anarchisten gegenüber. Während alle fröhlich die Früchte des Konsums ernten, ist die Revolution im Dorf angekommen. Und keiner hat's gemerkt. Und siehe da: die, welche die Revolution hinwegfegen sollte, sind plötzlich die Oberhäupter der revolutionären Partei. Der gnädige Herr ist der revolutionäre Herr. Die Revolution ist ins Triviale abgerutscht. „Erkenntnis kommt nach dem Fall“ — das kommt uns doch bekannt vor.

Die gesanglichen Zäsuren sind mehr als pseudospektakulärer Vorhang-Ersatz. Die Sängerin (Ilka Winkler), historisch und aufwendig kostümiert, ist unbeachtet, aber stets präsent. An einem kleinen Tisch sitzt sie und stickt, steht auf und singt. Da stehen sich nicht nur Epochen gegenüber, sondern auch Kunstgattungen. Theater und Oper. Sparsamkeit der Mittel und künstlerischer Prunk. Der große Schein wird präsentiert und demontiert. Theater ist Modell der Welt. Die Oper bringt das Theater zum Verstummen.

Das Thema wird in Becketts Katastrophe (1982 in Avignon uraufgeführt) aufgegriffen und gleichsam abgeschlossen. Beckett hat in diesem Stück eine Theatersituation zum Sinnbild furchtbaren Alltagsgeschehens gesteigert. Der sehr kurze Text ist wie ein Spotlicht, das einen kurzen Moment den Theaterraum erhellt und darin Erschreckendes zeigt. Katastrophe ist kein Anhängsel an AhQ, vielmehr eine Kompression zu Bewegungsunfähigkeit, zu Sprachverlust. Die Bezeichnung „Protagonist“ ist ein historisches Relikt. Die Sprache ist reduziert auf Befehle. Die Figuren sind Glieder einer noch eindeutigeren Abhängigkeitskette.

Stück II: Der „Regisseur“ dirigiert füßetrampelnd und kategorisch die „Assistentin“. Diese postiert den „Protagonisten“ auf einem Sockel. Der Protagonist ist zur tonlosen Puppe geworden. Der Schauspieler als Gegenstand, als Ware. Das Schlußbild zeigt ihn mit bloßen Schultern, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet. Der ewige Büßer.

Die Intensität des Abends entsteht aus der Reibung, in den Begegnungen von Klangwelten, von Musik und Sprache, im schnellen Wechsel der Ästhetiken. Das Aufeinanderfolgen der Stücke bringt Momente größter Konzentration.

Doch ein hochpolitischer Abend verhallte manchmal in einem Zuschauerraum, dessen Sensibilität einst groß war, der aber jetzt nicht empfänglich zu sein scheint für jene Konzentration auf Weltbilder. Lu Xun sagt: „Die Verzweiflung trügt wie die Hoffnung.“ Daran erinnert der Abend und auch seine Aufnahme in Potsdam.

Christoph Hein: Die wahre Geschichte des AhQ / Samuel Beckett: Katastrophe. Regie: Bernd Weißig. Bühne: K.P.M. Wulff. Mit Christian Kuchenbuch, Anke Fleuter, Jörg Schüttauf u.a. — Hans-Otto-Theater, Potsdam. Nächste Vorstellung am 19. April.