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Offener Brief-betr.: "Juden droht Ausweisung aus Berlin", taz vom 21.3.91

betr.: „Juden droht Ausweisung aus Berlin“, taz vom 21.3.91

Wir sind entsetzt, daß ca. 300 sowjetischen Juden, die in Israel Einbürgerungsanträge gestellt hatten, aber während dieses Verfahrens als Touristen nach Berlin einreisten und hier bleiben wollen, ab Ostermontag die Abschiebung aus Deutschland droht. [Anmerkung d. Red.: siehe dazu taz vom 2.4.91, Seite 6 „Hoffnung für Sowjetjuden aus Israel“]

Kann man es ihnen verdenken, daß sie nicht als „Puffer für die ,Territorial- und Siedlungspolitik‘ mißbraucht“ werden wollen? Niemand hat ihnen bisher zugesichert, daß sie nicht in den besetzten Gebieten angesiedelt werden, in denen es im übrigen nach neuesten Berichten (Bazelem-Bericht) nach wie vor zu schlimmsten Folterungen kommt. Aber vielleicht siedelt man sie nur in den annektierten Gebieten an. Es werden ca. 10.0000 neue Siedler für die Golanhöhen gesucht, worüber ja gerade die USA „sichtlich“ verärgert sind (taz vom 21.3.91).

Bei alledem erstaunt vor allem die Doppelzüngigkeit des Herrn Galinski: Vor Monaten waren die sowjetischen Juden allesamt willkommen, weil sie angeblich die hiesigen jüdischen Gemeinden verjüngen sollten. Nach seiner Israelreise meinte der Zentralratsvorsitzende, die sowjetischen Juden gehörten alle nach Israel. Offensichtlich hat Herr Galinski inzwischen auch eingesehen, daß die sowjetischen Juden nicht ohne weiteres in die hiesigen Gemeinden zu integrieren sind, da sie weitgehend nicht religiös aufgewachsen sind.

Wir meinen, die sowjetischen Juden sollten über Land und Lebensform frei entscheiden. Auch die deutsche Bundesregierung sollte sich in dieser Frage nicht von Israel unter Druck setzen lassen, wie es aber offensichtlich seit Wochen geschieht. Auch wir treten für eine unbeschränkte Aufenthaltserlaubnis von sowjetischen Juden ein, auch wenn sie als „undankbare“ vorübergehende israelische Staatsbürger zu uns kommen. Dies schließt auch das Recht dieser Menschen ein, hier zu arbeiten. Da diese Menschen meist überdurchschnittlich ausgebildet sind, dürfte es keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten, daß sie auf unserem Arbeitsmarkt Fuß fassen und so weitgehend keine Belastung für die öffentlichen Hände darstellen.

[...] Wir sollten sowjetischen Juden insgesamt dankbar sein, daß sie sich gerade in Deutschland niederlassen wollen. War es nicht das Fazit aller Gedenkreden von über 40 Jahren, daß wir die Juden vermissen? Kann sich das vereinigte Deutschland demnächst die Schlagzeile leisten: „Deutsche deportieren erneut Juden“? Deutsch-Jüdische Gesellschaft Hamburg e.V.

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