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Zeitschriften: Exil

MOMME BRODENSEN Die Herausgeber der Zeitschrift 'Exil‘ gehören weder zur ersten noch zur zweiten Generation der Exilforscher, Pioniergeist und -taten sind ihnen gleichwohl nicht abzusprechen. Das Blatt wurde Anfang der achtziger Jahre von Joachim H. Koch gegründet und nach seinem frühzeitigen Tod allen Schwierigkeiten zum Trotz von seiner Witwe Edita Koch weitergeführt. 'Exil‘ hat mittlerweile einen festen Leserstamm, freilich keinen so zahlreichen, wie man der Zeitschrift wünschen würde. Warum? Weil auf den Seiten dieses Blattes wirkliche Neuigkeiten mitgeteilt werden. Auf das „Wiederkäuen“ populärer Themen wird hier gänzlich verzichtet. Statt dessen führt jedes einzelne Heft selbst den Spezialisten unter den Exilforschern stets von neuem vor Augen, wie lückenhaft ihr Wissen um diese Epoche unserer Geistesgeschichte geblieben ist.

Die Konzeption dieses Publikationsorgans war von Anbeginn anders ausgelegt als die anderer, vergleichbarer Zeitschriften. Man hatte sich zum Ziel gesetzt, Kontroversen aufzugreifen, noch bevor sie im Rampenlicht öffentlicher Erörterung standen, dem Schicksal von Autoren nachzugehen, deren Spuren sich inzwischen verwischt haben. Das Ganze in der Absicht, ein umfassenderes Bild vom politischen und historischen, sozialen und ästhetischen Spektrum dessen zu liefern, was der ungenaue Begriff der Exilliteratur beinhaltet.

Läßt man die Jahrgänge der Zeitschrift (mittlerweile sind es zehn) noch einmal Revue passieren, so stößt man auf Namen und Themen, die heute Schüler und Studenten wie selbstverständlich im Munde führen, und die doch erst durch 'Exil‘ wieder ins öffentliche Bewußtsein gerückt wurden: Carl Einstein, Ernst Weiß und Hans Sahl, „Frauen im Exil“ und stalinistische Verfolgung geflohener Intellektueller. Durch die Absage an jegliche thematische Beschränkung — hier werden und wurden gleichermaßen Vita und Werk von Künstlern wie Hochschullehrern, Kritikern wie Soziologen, Wirtschaftsführern und Politikern vorgestellt — wird einem sehr anschaulich vor Augen geführt, wie engmaschig und verzweigt, beziehungsweise wie komplex die Materie ist. Daß in 'Exil‘ schließlich Debatten über das skandalös-peinliche Verhältnis bundesdeutscher Geistes- und Naturwissenschaftler den Exilierten gegenüber oder die ideologisch verbrämte DDR-Exilforschung ausgetragen wurden, und zwar frühzeitig, unterstreicht nur die intellektuelle Unabhängigkeit der Zeitschrift, beziehungsweise ihrer Herausgeberin. Last but not least ist das Blatt eine Quelle unbekannter Schriften.

Das letzte Heft (Nr. 2/1990, soeben erst erschienen) enthält wiederum zahlreiche Inedita. Gleich im ersten Beitrag, betitelt Bulletin de Vernuches. Neue Quellen zur Internierung Walter Benjamins (Autorin ist die Hannoveranerin Chryssoula Kambas), werden Dokumente nachgeliefert, über die schon seit Jahren gemunkelt wird, ohne daß freilich je Näheres mitgeteilt worden wäre. Die Rede ist hier von einer Zeitschrift oder genauer gesagt: von dem Exposé zu einer solchen, die Walter Benjamin zusammen mit einigen Mitgefangenen (unter anderem Max Aron, Fritz Fränkel und Hans Sahl) im französischen Internierungslager Vernuches/Nevers herauszugeben beabsichtigte. (Die Schriftstücke liegen heute im Archiv der ehemaligen Akademie der Künste der DDR.)

Benjamin hat im Laufe seines Lebens mehrfach Zeitschriftenpläne geschmiedet. 1914 tat er sich in dieser Angelegenheit mit seinem Freund Fritz Henle zusammen. Dessen Selbstmord bei Kriegsbeginn machte dem Untenehmen jedoch ein Ende, bevor es konkretere Formen angenommen hatte. Anfang der zwanziger Jahre bereitete er dann die Herausgabe einer Zeitschrift mit dem bedeutungsvollen Namen 'Angelus Novus‘ vor. Dieses Projekt gelangte ebenso wenig über das Planungsstadium hinaus wie ein weiterer Versuch in den dreißiger Jahren, als Benjamin zusammen mit Bertolt Brecht und anderen die Zeitschrift 'Krisis und Kritik‘ konzipierte. Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet unter den prekärsten Lebens- und Arbeitsbedingungen ein letzter diesbezüglicher Versuch am weitesten gedieh. Für die Internierten sowie deren Familien und Freunde, Franzosen wie Deutsche gleichermaßen, war das 'Bulletin de Vernuches‘ bestimmt. Sein ausführliches Exposé zur ersten Nummer (mit Bleistift niedergeschrieben auf Briefumschlägen und ähnlichem Papier) enthält eine „Ankündigung“ (Zeitung der Arbeiter des 54. Regiments), eine „Soziologie des Internierungslagers“ (Vernuches. Spiegel der deutschen Emigration) sowie Berichte über verschiedene Initiativen der Gefangenen (Dreihundert Unterkünfte, Umfrage über die Bücher im Lager von Vernuches und Die Stimme vom Dachboden). Beschlossen wird es von einigen Begleitzeilen Benjamins. Daß man Hinweise auf die Existenz dieser Texte (um von ihnen selbst ganz zu schweigen) in den Gesammelten Schriften Benjamins vergebens sucht, sei nur am Rande vermerkt. Die Arbeit von Chryssoula Kambas bietet darüber hinaus wichtige Details zur Rekonstruktion seines letzten Lebensjahres.

Die Deutschen in Verzückung ist ein weiterer Beitrag dieses Hedftes überschrieben. Er stammt aus der Feder von Michael Rohrwasser und berichtet über den „Moskauer Schriftstellerkongresse 1934 und seine deutschen Gäste“; genauer gesagt: über die Folgen des „stalinistischen Affektes“. Man wünschte sich, häufiger solche respektlosen, ironisch-distanzierten wie gut recherchierten und kenntnisreichen Beiträge lesen zu können. Sie führen ja vor allem eines vor Augen: daß jede Art von Heroenkult Einsichten und Erkenntissen nur abträglich ist. Mit einem Bild Rohrwassers: „Becher wirbt ,für ein Bündnis aller ehrlichen Hasser des Faschismus und der Kulturbarbarei‘. Eine erfolgreiche Rede. Feuchtwanger schreibt im Oktober 1934 (...), Bechers ,warme und herzhafte Rede‘ habe ,hier den letzten Damm niedergerissen‘. Wie heftig der Dammbruch war, läßt sich drei Jahre später in Feuchtwangers Stalin-Apologie Moskau 1937 nachlesen.“

Die ebenfalls lang vernachlässigte oder meist nur mit halben Herzen geführte Diskussion um die stalinistische Verfolgung der vor den Nazis geflohenen Intellektuellen hat in 'Exil‘ stets einen herausragenden Platz eingenommen. Nicht von ungefähr hat beispielsweise ein Hans Sahl in diesem Organ stets eine besondere Beachtung gefunden. Im vorläufig letzten Heft wird dieses erst noch aufzuarbeitende Kapitel der europäischen Geschichte um einen Beitrag von Reinhard Müller bereichert. Flucht ohne Ausweg. Lebensläufe (von Walter Dittberner und Hilde Hausschild) aus den geheimen „Kaderakten“ der Kommunistischen Internationale bringt Licht ins Dunkel der Funktionsmechanismen von Denunziation und Selbstbezichtigung innerhalb der kommunistischen Parteien. Die Aktualität dieser Dokumentation liegt angesichts der Debatten um die DDR-Vergangenheit, um die Geschichte der europäischen KPs, um Stasi und KGB auf der Hand. Sie führt zugleich vor Augen, wie wenig diesem Problem sowohl mit „Amnestie unterschiedslos für alle“ als auch mit „Rache- oder Sühneforderungen“ beizukommen ist.

Die übrigen Beiträge stammen von Michael Philipp (Hilfsaktionen für die Internierten von Gurs. Berichterstattung im New Yorker 'Aufbau‘ 1940-1943), Michael Grunwald (Es geht um den Realismus. Buchbesprechungen in 'Das Wort‘) und Axel Wendelberger (Expressionismus im Exil. Die Sammlung Ludwig und Rosy Fischer im Jüdischen Museum der Stadt Frankfurt a.M.). Beschlossen wird das Heft wie stets mit einer außerordentlich informativen und nützlichen Chronik sowie bibliographischen Hinweisen zum Thema „Exilliteratur“.

'Exil‘ erscheint zweimal jährlich und ist über die Buchhandlungen oder besser noch direkt bei der Herausgeberin Edita Koch (Goethestr. 122, 6457 Maintal 2) zu beziehen. Der Preis ist mehr als fair: 19,50 D-Mark pro Heft (Durchschnittsumfang: 90 bis 100 Seiten) beziehungsweise 38 D-Mark fürs Abonnement.

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