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REISEN, UM ZURÜCKZUKOMMEN

■ Aurel Schmidts "Die Alpen. Schleichende Zerstörung eines Mythos" - nicht nur ein nachdenkliches Buch

Aurel Schmidts „Die Alpen.

Schleichende Zerstörung eines Mythos“ — nicht nur ein nachdenkliches Buch

VONWERNERRAITH

Gut fünfunddreißig Jahre sind es her, seit Ernesto Grassi mit seinem Reisen ohne anzukommen neue Maßstäbe in der Literatur über fremde Länder gesetzt hat: nicht mehr, wie weiland Goethe, die Vereinnahmung des Unbekannten, oder wie bei den Neuhumanisten, die Verbiegung des Aufgefundenen nach den Interpretationslinien der eigenen Weltanschauung, sondern die Reflexion über die Unfähigkeit, das Neue, Ungewohnte, kulturell andere überhaupt zu verstehen. Grassis Reise nach Chile, seine Wanderungen in den Anden, sein Nachdenken darüber, wie ihm sein „abendländisches“ Denken stets in die Quere kam und er abreiste, ohne wirklich dort eingedrungen zu sein, wo er eine andere Welt mitzunehmen gehofft hatte, war der A uslöser für einen grundlegenden Wandel in der Sicht der Fremde. Baedekers oberlehrerhafte, rein auf Kunstdenkmäler zielende Darstellung überlebte sich ebenso wie der „Land-und-Leute“- Typ des alten Merian und Polyglotts: Wer seinen Lesern eigene Erlebnisse dazustellen suchte, tat dies fortan eher in Annäherungen, Umschreibungen, Improvisationen, drückte mehr sein eigenes Staunen aus, als daß er bündige Deutungsraster vorgab.

Das freilich wurde alsbald auch zu einer Art Masche: die Nichtinterpretation der Fremde als Manier, die Tendenz, beim Leser Unverständnis hervorzurufen oder gar Chaos, geriet in der Reiseliteratur zur Macke — hinter der allerdings oft genug ein wenig die Andeutung hervorspitzte, daß der Schreiber, natürlich, das Fremde doch verstanden hatte, es aber dem Leser nicht so ganz zutraut, ähnliches zu bewerkstelligen.

Nicht übertrieben, wenn man daher ein neues Buch geradezu begeistert liest, das erstmals seit Grassis Reisen ohne anzukommen die Tendenz, wenn man will, umkehrt — oder, wenn man anders will, Grassi wieder ganz und gar ernst nimmt. Aurel Schmidts Die Alpen. Schleichende Zerstörung eines Mythos ist eine Reise zurück in die eigene Umgebung, ein Versuch, vieles, das auf der Hand liegt, aber durch tausenderlei Interessen und Phrasen verdeckt ist, zu erklären und dennoch nicht dekretorisch zu interpretieren: ein Dokument nicht mehr nur über die Unfaßbarkeit unserer Umwelt, sondern auch der Ohnmacht, sie zu erhalten.

Schmidt, Redakteur der 'Basler Zeitung‘, Ethnologe und Verfasser einer Reihe von Büchern über Indianer und amerikanische Randgruppen (Der Fremde bin ich selber, Die Rückreise von Tominian) kehrt hier in seine Schweiz heim und versucht, das zu entdecken, was für viele Menschen — Ausländer, aber auch die Schweizer selbst — den großen Reiz des Alpenlandes ausmacht. Es wird eine Reise durch viele Teilaspekte, welche sich aber immer wieder beharrlich einer Gesamtsicht entziehen: Die Schweiz als „das“ Land der Berge, Die Schweiz aber auch als „politisches Museum“, in dem große Denker der Aufklärungszeit wie Rousseau „die“ Zukunft Europas vorauszusehen dachten. Die Schweiz als „das“ Vorreiterland des Tourismus, wo zuallererst der „Reisende“ — Goethe war dreimal hier — miterfunden wurde, aber auch dessen Degeneration, der bloße Sightseeing-Abklapperer. Die Schweiz als der Ort, in dem die Berge zuerst „industrialisiert“ wurden — und als jene Region, in der ebendiese Alpen bereits am nächsten einem Totalkollaps sind. Und dies nicht nur der Tonnen von Müll wegen, die, überwiegend nicht abtransportierbar, allsonntäglich und allsommerlich in großen Höhen liegenbleiben, sondern auch aufgrund der immer massiveren Anzapfung der dort noch vorhandenen sauberen Wasserquellen, der Plünderung der Flora, der Zertrampelung der Natur.

Wer sich da einliest, ist hin- und hergerissen von den begeisterten und begeisternden Schilderungen der Alpenpioniere der letzten beiden Jahrhunderte (auch und gerade wenn diese oft regelrecht Haarsträubendes über die Roh- und Rauheit der Bergbewohner und ihres Ambientes berichten) und den nüchternen, oft bloß in nackten Zahlen ausgedrückten Demolierungen der Berge. Ein Großteil der Zerstörung ist dabei sicher hausgemacht; die Wasserregulierungspläne lassen voraussehbar eine weitgehende Änderung — zum Nachteil — der Hochalpen fürchten, die noch immer fortschreitende touristische Erschließung eine weitere Reduzierung der Regenerationskraft von Fauna und Flora. Doch der Druck zur noch weiteren Ausbeutung kommt auch aus dem Ausland, drückt herein über die Besucherströme ebenso wie über sauren Regen und die international verbandelten Nutzungspläne der Umwelt. „Nutzung und Erhaltung“, erkennt Schmidt am Ende seines Buches, „sind fast zum Widerspruch“ geworden. Gängige Phrasen, wie die vom „Landschaftskapital“, das den Schweizern zur Mehrung des Reichtums helfen soll, oder von der „Landschaft als Rohstoff, Existenzgrundlage und Wirtschaftsmotor des Tourismus“ zeigen demaskierend die Sicht, die den „Profis“ der Alpen- Verwendung heute eigen ist. „Zwei Weltanschauungen stehen sich gegenüber“, schreibt Schmidt. „Die eine will, was natürlich ist, soweit wie möglich erhalten und es belassen wie es ist, weil es nicht nur eine Bedeutung gibt, sondern viele und verschiedene. Die andere will aus dem, was sie antrifft, etwas machen, etwas Neues, etwas, das einen menschlichen Akt manifestiert. Ein Verständnis der einen für die anderen und der anderen für die eine Weltanschauung gibt es nicht, es ist ausgeschlossen. Für die einen sind Staumauern kühne Menschheitswerke, die für einen prometheischen oder pharaonischen Tatendrang zeugen, für die anderen Eingriffe von enormer Hybris und Häßlichkeit.“

Die Wahl fällt Schmidt natürlich nicht schwer: „Die Zerstörung der Natur durch ihre Umwandlung in nutzbare Werte betrifft mich existenziell, sie setzt mir Grenzen, raubt mir meine Visionen und macht mich blind. Daß die Natur zusammenbricht, wie manchmal behauptet wird, glaube ich nicht. So schnell wird das nicht gehen; sie wird aber in einen anderen qualitativen Zustand übergehen, den wir nicht mehr erkennen und nachvollziehen können, weil die Wahrnehmung dafür abhanden gekommen ist.“

Aurel Schmidt: Die Alpen. Schleichende Zerstörung eines Mythos. 339 S., zahlreiche Abbildungen, Benziger Verlag Zürich,

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