: Selbst Babarossa feiert fröhliche Urständ
Chemnitzer Einwohner empört über fragwürdige Straßenumbenennungen in großer Zahl/ Warum wird nicht gleich die Dr.-Salvador-Allende-Straße nach General Pinochet umbenannt/ Der ehemalige Chemnitzer Agricola kommt wieder zu Ehren ■ Aus Chemnitz Franz Böhm
Dem Fahrer eines großen „Nobelschlittens“, der sich in einem Chemnitzer Vorort verirrt hatte, widerfuhr kürzlich merkwürdiges. Als er Straßenpassanten nach dem richtigen Weg fragte, konterten die spontan: „Warum erkundigen Sie sich eigentlich bei uns? Fragen Sie doch Herrn Kohl oder Herrn Blüm, die wissen sowieso alles besser.“
Ein anderes Mal erhielt er sogar den Rat: „Na, da bleiben Sie doch lieber zu Hause, wenn Sie sich hier nicht auskennen.“
So unfreundliche Antworten hätte ich bislang für einfach undenkbar gehalten. Wodurch sie auch im einzelnen provoziert wurden — sie kennzeichnen nur die zum Zerreißen gespannte Atmosphäre und tiefe Verbitterung vieler Menschen in den neuen Bundesländern.
Auch zum Teil durch ein arrogantes Gehabe ihrer Besucher fühlen sich die Ostler im wahrsten Sinne des Wortes „überfahren“. Die Chemnitzer Stadtverwaltung reizt zusätzlich die Nerven der Einwohner durch eine nicht enden wollende Welle von Straßenumbenennungen. Und zwar so, daß der freundlichste Chemnitzer kaum noch selbst die Übersicht bewahren, geschweige denn einem Fremden Auskunft geben kann.
Da wurden Namen wie Karl Marx, Otto Grotewohl, Wilhelm Pieck und Ernst Thälmann getilgt, doch nur ein Teil der Vorschläge zu den Änderungsvorschlägen kann überzeugen: Die Karl-Marx-Allee im Zentrum heißt jetzt wieder Brückenstraße, und nach Zschopau führt wieder ganz schlicht und einfach die Zschopauer Straße, ohne unbedingt (wie zuletzt) Juri Gagarin bemühen zu müssen.
Der ehemals Dresdner Platz heißt heute wieder so und so weiter. Daß in den letzten 40 Jahren eine enorme Zahl von Straßen nach einstigen KPD-Funktionären benannt wurden — als ob die Stadt und das Land sonst niemanden hervorgebracht hätte — wird nun korrigiert. Zum Beispiel völlig zu Recht kommt der ehrwürdige Agricola, sächsischer Arzt, Montanwissenschaftler und Chemnitzer Bürgermeister (1494-1555), wieder zu Ehren.
Aber vom Logischen bis zum Fragwürdigen schien es für die Stadtherren nur ein kleiner Schritt gewesen zu sein. Was hat Chemnitz eigentlich mit Babarossa zu tun, auf den man sich plötzlich besann? Auf wen nimmt eigentlich die neue Kanzlerstraße Bezug?
Während sich die Einwohner noch nicht ganz von diesen ersten Umbenennungen erholt haben und noch manche Frage ungeklärt bleibt, rollt bereits eine zweite Lawine derselben Art von Veränderungen an. Die Lokalblätter sind bereits voll mit neuen Umtauflisten, die die Stadtverwaltung diesmal wenigstens eine Zeit lang zur öffentlichen Diskussion stellt: Nötig, da Empörung über manche neue Einfälle hohe Wogen schlägt. Da war doch wirklich geplant, das Andenken an die Geschwister Scholl, die als Widerstandskämpfer in die Geschichte eingegangen sind, zu tilgen.
Unter dem Protest der Bürger hat der Rat der Stadt diese Idee wieder zurückgenommen. Andere Widerstandskämpfer gegen den Faschismus, sofern ihre Zugehörigkeit zur KPD verbrieft ist, werden gleich reihenweise gestrichen, selbst wenn sie ihr Leben geopfert haben — als ob es sie nie gegeben hätte — die CDU-geführte Stadtverwaltung will auch Franz Mehring, Clara Zetkin und Rosa Luxemburg nicht mehr auf Straßenschildern. Hat man bereits vergessen, daß zum Beispiel Proteste gegen das SED-Regime unter Berufung auf einen Ausspruch Rosa Luxemburgs — Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden... — begannen? Gegen Salvador Allende und die Partnerstädte in der UdSSR (Wolgograd) und in der CSFR (Usti nad Labem) hat man auch etwas — als ob das Chemnitzer Weltbild im Erzgebirge seine Grenze fände — vielleicht die jener „Novatoren“. Dafür solls aber Veilchen-, Kornblumen- und Enzianstraßen geben...
„Warum nicht gleich die Dr.-Salvador-Allende-Straße in General-Pinochet-Straße umbenennen?“, fragte in der Leserdiskussion Medizinalrat Dr. med. Tilo Winkler die Ratsherren. Eine andere Einwohnerin, Eva Maria Hacker aus der Leipziger Straße, meinte in der Lokalpresse: „In den über 40 Jahren, die ich in dieser Stadt wohne, war es mir noch nie so peinlich, Bürgerin dieser Stadt zu sein, wie jetzt angesichts der geplanten Straßenumbenennungen. Abgesehen von dem zu erwartenden Chaos, weil niemand mehr weiß, wo welche Straße ist, und von der Geldverschwendung, ist es eine Schande, welche Namen dieser Umbenennung zum Opfer fallen sollen...“ ('Freie Presse', 4. April 1991). Mensch darf auf die Reaktionen im Rathaus gespannt sein.
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