piwik no script img

»Die Deutschen sind uns etwas schuldig«

■ Zwei irakische Kurden, Opfer der Giftgasangriffe von 1988, erleben in Berlin am Fernsehschirm den Massenmord an ihren Landsleuten/ Weil es für sie keine humanitäre Aufenthaltsregelung gibt, stecken die beiden nun im Asylverfahren/ Von Andrea Böhm

Wenn der Sommer kommt, wird sich Rebin nach der Sonne richten. Früh morgens und spät abends, wenn es kühl ist, ein paar Schritte nach draußen gehen, tagsüber, wenn die Liegewiesen in den Parks voll sind wie Pinguininseln, bleibt er im Haus. Denn der Sommer ist die Hölle. Heute ist ein naßkalter Tag, da geht es Rebin leidlich gut, er gönnt sich sogar eine Zigarette, obwohl der inhalierte Rauch Gift für seine verätzten Lungen ist. Er ist jünger geworden. Die Haare sind nicht mehr ganz so grau, das Gesicht nicht mehr ganz so fahl und eingefallen wie vor neun Monaten, als er, 26 Jahre alt, in das Ostberliner Krankenhaus in Buch eingeliefert wurde. Damals schien seine Kraft gerade auszureichen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, heute kann er spazieren gehen — vorausgesetzt, es ist schattig und kühl.

Rebin erträgt keine Wärme mehr seit dem 23. März 1988. An diesem Tag überflogen acht irakische Jagdbomber das kurdische Dorf Chalachsa. Sechs Raketen gingen nieder, die mit einem leisen Plop explodierten, »als wenn man eine Tüte platzen läßt«. Rebin kannte den Knoblauchgestank, der plötzlich die Luft erfüllte, von früheren Angriffen. Da war er von den Einschlagstellen ein gutes Stück entfernt gewesen, hatte genug Zeit, in die Berge zu fliehen, bis sich das Giftgas verzogen hatte. Dieses Mal schlug eine Rakete wenige Meter von dem Felsstück ein, auf dem er gerade saß.

Er bekam keine Luft mehr, mußte sich erbrechen, Haut und Augen brannten, als seien sie mit Säure übergossen. Seine Augenlider waren plötzlich mit Brandblasen übersät. An mehr kann er sich nicht mehr erinnern. Daß er überlebt hat, verdankt er anderen Flüchtlingen, die ihn über die Grenze in den Iran geschleppt haben. 80 der 600 EinwohnerInnen in Chalachsa — die meisten waren Flüchtlinge aus der Stadt Suleymania — erstickten sofort. Andere starben später an den Verbrennungen. Wieder andere erblindeten. Gasmasken? Rebins Freund Hewa, der an diesem 23. März 1988 ein paar Meter von ihm entfernt saß, lächelt nachsichtig. »Woher, bitte, sollten wir Gasmasken haben?« Nach sechs Monaten Berlin hat er genügend Deutsch gelernt, um sich mit den deutschen Behörden zu verständigen. Doch um die Bilder dieses 21. März zu beschreiben, fehlen ihm die Worte. »Ich wünschte«, sagt er, »mein Gehirn wäre eine Videokamera. Dann würde ich Euch diese Filme zeigen.«

Die Nachricht von Giftgasangriffen auf die Kurden ging um die Welt, ohne größere Empörung auszulösen. Tarik Asis, damals irakischer Außenminister, wurde drei Monate nach den Bombenangriffen von Kanzler Kohl und Außernminister Genscher in Bonn wie jeder x-beliebige Staatsgast begrüßt. Die Regierung in Washington gewährte dem Diktator in Bagdad, den damals noch niemand mit Hitler verglich, einen Milliardenkredit; deutsche Firmen exportierten munter weiter in den Irak. Im Januar nahm Tarik Asis an einer C-Waffen-Konferenz in Paris teil und bekräftigte zusammen mit 150 anderen Außenministern das Genfer Protokoll von 1925, das den Einsatz von chemischen Waffen ächtet.

Während Asis unbehelligt von UNO-Resolutionen oder Embargodrohungen auf dem internationalen Parkett reüssierte, begann für Rebin und Hewa eine Odyssee durch iranische Krankenhäuser und Lazarette. Aus einem Teheraner Hospital wurden sie nach kurzzeitiger Behandlung wieder hinausgeworfen, weil das ganze Krankenhaus geschlossen wurde. Mit offenen Brandwunden, die Augen fast noch blind, schlugen sie sich bei Temperaturen um die dreißig Grad in einem überfüllten Bus bis in kurdisches Gebiet durch, wo kurdische Ärzte sie schließlich in einem als Lazarett hergerichteten Haus unterbrachten.

Die Mediziner schickten ihre Diagnosen an europäische Kollegen mit der Bitte um Hilfe. Hätten sie die Europäer um wissenschaftliches Know- how bei der Herstellung von Giftgasen ersucht, die Resonanz wäre wohl ungleich größer gewesen. Doch die Forschung über die medizinische Behandlung von Giftgasopfern steckt in den Kinderschuhen. Über die Langzeitwirkungen von chemischen Waffen weiß man fast nichts, nur so viel: Giftrückstände halten sich noch jahrelang im Körper. Die Opfer leiden unter Apathie, Schwindel- und Schächeanfällen, unter Gedächtnisstörungen; die Verätzungen der Augen können zur Erblindung führen; die Verätzungen der Haut können nie vollständig geheilt werden. Aus Italien kamen schließlich zwei Mediziner mit dem Auftrag, den Transport für Kriegsopfer in italienische Krankenhäuser zu organisieren. Zwölf Verletzte könne man aufnehmen, erklärten sie — nein, keine Giftgasopfer, mit Verletzungen durch chemische Waffen habe man keine Erfahrung. Monate später, Anfang Juni 1990 kam die Nachricht, eine Klinik in Deutschland würde sie aufnehmen.

Die deutsch-deutsche Verantwortung

Es war gewissermaßen der erste — und bislang einzige — deutsch-deutsche Versuch, Verantwortung für das zu übernehmen, was westdeutsche Firmen und die ostdeutsche Staatssicherheit mit gesamtdeutscher Gründlichkeit den irakischen Kurden angetan hatten. Die Firmen hatten, unbehelligt von staatlichen Eingriffen, jahrelang an den Irak geliefert, was dieser für die Giftgasproduktion benötigte, während die Stasi den irakischen Geheimdienst in die Feinheiten eines Polizei- und Spitzelstaates einwies. Die Westberliner Ärztekammer stellte nun gemeinsam mit kurdischen Organisationen die Kontakte in den Iran her, das Ostberliner Solidaritätskomitee, im real existierenden Sozialismus für angewandten Internationalismus und Völkerfreundschaft zuständig, beschaffte gültige Einreisevisa für die damals noch existierende DDR.

Auf der »Ausländer«-Station 303a im Ostberliner Krankenhaus Buch, wo bislang ausschließlich Patienten aus politische verbündeten Ländern und Befreiungbewegungen untergebracht waren, bereitete man erstmals die Betten für Opfer eines bislang wohlgelittenen Bruderregimes. Die Aufnahme von zehn Kurden war geplant, fünf kamen schließlich am 16. Juni 1990 an, darunter Rebin und Hewa. Das Solidaritätskomitee wollte dies nicht nur als humanitäres, sondern auch politisches Signal verstanden wissen — und als Startzeichen für ein umfassenderes Projekt: Die medizinische Erfahrung der ÄrztInnen und PflegerInnen in Buch gepaart mit dem psychologischen Fachwissen von PsychologInnen in West-Berlin sollten die Grundlage für ein Rehabilitationszentrum für Folter- und Kriegsopfer werden.

Am 14. Januar 1991, drei Tage vor Kriegsbeginn im Irak und nach sieben Monaten auf Station 303a, wurden die fünf Kurden auf eigenen Wunsch aus der Klinik Buch entlassen. »Kurden fliehen aus Angst vor Anschlägen«, vermeldete wenig später eine Berliner Zeitung. Angst, sagen Rebin und Hewa, hätten sie wohl gehabt. Vor dem irakischen Geheimdienst, dessen Aktivitäten und Affinität zur Stasi sie auch in Ost-Berlin fürchteten. Auch das Verhältnis zu den palästinensischen Patienten auf der Station wurde nach der Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein zunehmend gespannter. Mehr noch als die Furcht vor Anschlägen habe sie jedoch die Frustration über die fehlende Behandlung aus dem Krankenhaus getrieben. Bei aller Freundlichkeit und Herzlichkeit des Personals — »sie haben uns ein paar Tabletten gegeben, aber mehr nicht«, sagt Hewa. Von den geplanten Hauttransplantationen wurde keine einzige vorgenommen. Auch die Ärztekammer hat die Zusammenarbeit mit der »Ausländerstation« in Buch aufgekündigt.

Als Bittsteller im Asylverfahren

Für kurdische Flüchtlinge gibt es keine humanitäre Aufenthaltsregelung. Um sich nach ihrer Entlassung aus Buch nicht des illegalen Aufenthalts schuldig zu machen, stellten Hewa und Rebin einen Asylantrag. Seitdem warten sie, wie alle anderen auch, seit Monaten auf einen Bescheid des Bundesamtes für politische Flüchtlinge in Zirndorf, stehen stundenlang Schlange am Friedrich- Krause-Ufer vor der Ausländerbehörde. Die Tage vergehen mit Besuchen beim Augenarzt, beim Internisten und beim Psychotherapeuten. Krankenscheine stellt das Sozialamt — plus 405 Mark Sozialhilfe im Monat. Extra-Unterwäsche oder Bettzeug zur Linderung ihrer verbrannten Haut kann man damit nicht bezahlen. Und um Extra-Kleidergeld wollen sie nicht bitten. Hewa blättert mit dem Finger ein Dutzend ärztlicher Atteste auf, die nicht nur die Folgen mehrerer Giftgasangriffe, sondern auch die erlittene Folter in irakischen Gefängnissen bezeugen. Daß er jetzt in einem bürokratisierten Verfahren beweisen soll, kein Wirtschaftsflüchtling zu sein, geht an die Grenze seines Selbstwertgefühls. Er habe beste Chancen auf Anerkennung, tröstete die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John. Aber dafür will er sich nicht auch noch bedanken müssen, schließlich »sind die deutsche Regierung und die deutschen Firmen uns etwas schuldig«. Es hat ihn einige Mühe gekostet, das Wort »Wiedergutmachung« korrekt auszusprechen — jetzt muß er feststellen, daß die Deutschen darauf allergisch reagieren. Weshalb er lieber nicht mehr an das Gewissen, sondern an das Mitgefühl der Deutschen appelliert, damit sie Medikamente, Kleider, Lebensmittel, Zelte und Decken nach Kurdistan liefern. »Wenn wir weiter Forderungen stellen, geben sie uns gar nichts.«

Abends sitzen Hewa und Rebin in ihrem Zimmer vor dem Fernseher, solange die Augen das mitmachen. In den Nachrichten sehen sie ihre Landsleute im Schlamm zusammengekauert unter Plastikplanen. US- Präsident Bush räsoniert beim Angeln über »Nichteinmischung« und Saddam Hussein übt sich erneut in Siegergesten und bietet den Kurden eine Amnestie an. Der kurze Traum von einer autonomen Region Kurdistan ist vorbei, »und dabei wäre das die beste Medizin für uns gewesen«, sagt Hewa. Die Perspektive heißt jetzt wieder unerbittlich Deutschland. Beide möchten studieren, »wir sind ja noch jung«. Sie lernen die Sprache, hoffen auf gute Ärzte und auf einen kalten Sommer.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen