: "Der letzte Spezialist"
»Der letzte Spezialist« ist ein Mann des Theaters. Des ganz großen sogar: er arbeitet an der Mailänder Scala ebenso wie bei der Royal Shakespeare Company. Mit angemessener Würde trägt er die schwerwiegende Verantwortung, allerorten die Theatervorhänge im rechten Augenblick zu öffnen und zu schließen. Derweil bleibt ihm genug Zeit, mit einem staunenden und einem wissenden Auge die mirakulösen Geschehnisse zu verfolgen, die als hohe Kunst über die Lebensbretter der Bühnen gaukeln. Wenn dann alle theatralische Arbeit getan und die Stätte der großen Imagination ausgestorben ist, wird er, wie jeden Abend, in seiner Spezialisteneinsamkeit Freund Michel anrufen und für ihn, für sich und für uns die Geister der hohen Theatralik noch einmal aufwecken.
Jean Verdier ist der letzte Spezialist und zudem ein Zauberlehrling, dem es perfekt gelingt, der Tücke des gerufenen Objekts und der Laune des herbeizitierten Geistes hemmungslos zu verfallen. So gerät etwa die Beschreibung der überdimensionalen Hamlet-Tragödie zum Kampf mit knarrenden Türen, metertiefen Schluchten, Horden von undisziplinierten Fröschen, freßgierigen Alligatorten; das Stück des ehrwürdigen Briten reüssiert unter der pantomengleichen Darstellung im fast leeren Raum des Übü-Theaters als gespenstisch absurdes Comical. Die von Kristine Verdier live eingesprochene »Untertitel« erleichtert dem Nichtfranzosen das Verständnis erheblich: also keine Angst vor einer fremdsprachigen Aufführung.
Auch nicht vor einer Opera seria im Sinne eines »postmodernen avantgardistischen neoklassizistischen Melodramas im sozialen Kontext«, daß uns aus der Mailänder Scala übermittelt wird. Zwar handelt es sich um ein schwerenötiges Liebesdrama mit dem übernächtigten Pathos vergangener Epochen, doch hat eine junge Regie es gnadenlos für die Jetzt-Zeit gerettet und samt Chor in die U-Bahn Linie Rudow-Spandau verlegt und in die heikle Schwarzfahrer-Problematik eingebettet: die schwindsüchtige Schwarzfahrerin und der verliebte Kontrolleur in Rezitativ und Arie (selbstverständlich mit Untertiteln).
Ob im Underground New Yorks oder auch im Off-Theater Berlins - Jean Verdiers Lust zur absurden Typisierung, sein heilloses Vergnügen an der clownesken Übertreibung überträgt sich zusammen mit einem Schuß poetischer Melancholie zielsicher auf's Publikum. Kein Spezialistentheater, sondern ein Muß für den ganz allgemein gebräuchlichen Lach- und Schmunzelmuskel ohne rheumatisch-elitäre Verklemmungen. »Der letzte Spezialist«, bis zum 5.Mai freitags bis sonntags um 20.00 im Übü-Theater. baal
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen